Das Gefühl, ein Zuhause zu haben. Ein Gefühl von Kameradschaft und Familie. Und ein gemeinsamer Sinn von »Jiddischkeit«: Barry Schneider muss über die Antwort auf die Frage, wonach jüdische Soldaten, aktive und ehemalige, in seiner Organisation suchen, nicht lange nachdenken. Schneider ist Vorsitzender – der offizielle Titel ist: Commander – der Jewish War Veterans of the United States of America, der ältesten Veteranenorganisation in den USA. »Wir haben verschiedene Geschichten und verschiedene Hintergründe«, sagt er. »Aber wir alle sehen die Welt durch eine jüdische Linse.«
Schneider, 74, diente 20 Jahre lang als Offizier in der Air Force, er arbeitete mit Raketensystemen, war in Island, in der Türkei und in der US-Botschaft in Marokko stationiert. Später arbeitete er in der Schulverwaltung von Fort Worth im Bundesstaat Texas, wo er bis heute lebt.
Zielgruppe Die Organisation Jewish War Veterans (JWV) hat heute knapp 15.000 Mitglieder. Die meisten sind in ihren 60ern, und die meisten sind männlich. Neben Kriegsveteranen aus dem Zweiten Weltkrieg, den Kriegen in Korea und Vietnam, in Afghanistan und im Irak sowie deren direkte Nachkommen richtet sich der Verband außerdem an Militärangehörige im aktiven Dienst. Aber auch, wer nicht Soldat ist oder war, kann als unterstützendes Mitglied beitreten.
JWV veranstaltet Fundraising-Events, organsiert in Alten- und Pflegeheimen Film- und Bingo-Abende, Vorträge oder Pizza-Partys.
Der Großteil der Mitglieder sind Juden, »aber wir haben auch nichtjüdische Mitglieder, die sich dem Judentum verbunden fühlen oder jüdische Familienangehörige und Freunde haben«, sagt Robert Max, IT-Ingenieur aus Atlanta und Major der Reserve in der US-Armee. »Es gibt bei uns keine Aufnahmetests«, setzt er hinzu und lacht. Einzige Bedingung: »Wir sind eine säkulare Organisation. Und Juden missionieren grundsätzlich nicht. Wer sich daran hält, ist willkommen.« Max organisiert die Aktivitäten von JWV im Südosten der USA. Dort gibt es etwa 500 Mitglieder.
New York Die meisten JWV-Mitglieder leben indes im Nordosten der USA, in New York und New Jersey, außerdem in der US-Hauptstadt Washington, D.C., in Kalifornien und in Florida – »eben dort, wo auch die meisten Juden im Land leben«, sagt Max.
JWV fühlt sich drei zentralen Aufgaben verpflichtet, erklärt Barry Schneider. Erstens: Kriegsveteranen zu helfen, unabhängig von ihrer Religion, ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrer Herkunft. Zweitens: Antisemitismus in all seinen Formen zu bekämpfen. Und drittens: für den Staat Israel einzutreten.
In den vergangenen Jahren werde der Kampf gegen Antisemitismus immer wichtiger für die Organisation.
JWV veranstaltet Fundraising-Events, organsiert in Alten- und Pflegeheimen Film- und Bingo-Abende, Vorträge oder Pizza-Partys. Im Pflegeheim des Veteranenkrankenhauses in Atlanta zum Beispiel. »Dort sind unsere freiwilligen Helfer drei- bis viermal im Monat aktiv«, sagt Robert Max. Kein Einziger der Heimbewohner ist übrigens Jude.
Kontakt Aber JWV will auch für Soldaten im aktiven Dienst präsent sein: Die Organisation hält Kontakt zu den jüdischen Militärseelsorgern bei Heer, Luftwaffe und Marine, versorgt jüdische Soldaten zu den Hohen Feiertagen mit festlichen Speisen und Festtagsutensilien, veranstaltet auf größeren Militärstützpunkten wie Fort Benning in Georgia jüdische Gottesdienste zu Pessach und anderen jüdischen Feiertagen und lädt im Anschluss alle Soldaten auf dem Stützpunkt zu einem Oneg, einer kleinen Stärkung mit Bagels und jüdischen Spezialitäten, ein.
Für jüdische Kadetten der Militärakademien wie West Point sowie der Naval Academy und der Air Force Academy veranstaltet JWV einmal im Jahr ein sogenanntes Jewish Warrior Weekend. »Wir bereiten die künftigen Offiziere auf ihren aktiven Dienst vor«, sagt Schneider. »Vor allem wollen wir, dass sie wissen: Es gibt ein Netzwerk von jüdischen Militärangehörigen im ganzen Land.« Rund 10.000 Juden sind derzeit im aktiven Militärdienst in den USA tätig.
Antisemitismus In den letzten Jahren werde der Kampf gegen Antisemitismus – »besonders in seiner neuen Gestalt, dem immer aggressiveren Israelhass« – immer wichtiger für die Organisation, sagt George Heart, Leiter von Post 112, dem JWV-Posten in Atlanta. Das reicht von Aufklärungsveranstaltungen über die antizionistische BDS-Bewegung bis zur Lobbyarbeit gegen antisemitische Rhetorik.
So verurteilte JWV vor einigen Wochen auf verschiedenen medialen Kanälen »die antisemitischen Kommentare und Tweets und die hasserfüllte Sprache« von Ilhan Omar, einer muslimischen Kongressabgeordneten aus Minnesota, und forderte ihre Absetzung als Mitglied des außenpolitischen Ausschusses im US-Repräsentantenhaus. Omar, die in der Vergangenheit die BDS-Bewegung offen unterstützte, hatte Israel als »Apartheidstaat« bezeichnet.
Jüdische US-Soldaten haben in Korea, Vietnam, Afghanistan und im Irak gedient.
Neben den politischen und karitativen Aufgaben wollen Barry Schneider, Robert Max und George Heart, dass die Aktivitäten von JWV vor allem eine zentrale Botschaft vermitteln – immer und immer wieder: Juden dienen im US-Militär, und sie tun dies bereits seit Langem.
Das war auch der eigentliche Grund, warum 63 jüdische Veteranen des amerikanischen Bürgerkrieges im Jahr 1896 die Organisation Jewish War Veterans gründeten: um dem weit verbreiteten Irrglauben entgegenzutreten, Juden seien keine amerikanischen Patrioten, dienten nicht als Soldaten. JWV gewann schnell an Einfluss bei der amerikanischen Militärführung und verschaffte sich Gehör in der Öffentlichkeit. Im Ersten Weltkrieg spielte der Verband eine Schlüsselrolle dabei, jüdische Seelsorger fest neben ihren christlichen Kollegen bei den US-Streitkräften zu etablieren.
GLEICHBEHANDLUNG Im März 1933 organisierte JWV in Manhattan einen Protestmarsch gegen den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland, forderte von der US-Regierung einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen und einen Boykott aller Waren und Güter aus Nazi-Deutschland. Nach Schätzungen nahm fast eine Million Menschen an dem Marsch teil, entweder als Demonstranten oder als Zuschauer.
Vielen Amerikanern sei die Rolle der Juden in den Streitkräften bis heute nicht bewusst.
Im Zweiten Weltkrieg wurde »The Fighting Jew« zu einem feststehenden Begriff. Für jüdisch-amerikanische Soldaten hatte dieser Krieg eine tief persönliche Komponente. Mehr als eine halbe Million jüdischer Amerikaner kämpfte zwischen 1941 und 1945 in Asien oder Europa. Viele von ihnen sollten später zu Ruhm kommen, als Künstler, Geschäftsleute, Politiker oder Sportler – darunter Mel Brooks, Kirk Douglas, Norman Mailer, J. D. Salinger, Herman Wouk oder Joseph Heller, ferner Außenminister Henry Kissinger und Baseball-Legende Hank Greenberg.
Nach dem Krieg setzte JWV in Washington die religiöse und ethnische Gleichbehandlung bei der Versorgung jüdischer, aber auch afroamerikanischer Kriegsveteranen durch – das war zuvor nicht selbstverständlich.
Zweiter Weltkrieg Es war die Erfahrung ihrer Väter im Zweiten Weltkrieg, die Robert Max und George Heart dazu bewogen hat, der Organisation beizutreten. Hearts Vater flüchtete aus der Tschechoslowakei in die USA, kämpfte während des Krieges in England und Frankreich und arbeitete nach dem Krieg in der amerikanischen Militärverwaltung und später für Radio Free Europe in Berlin. Heart, der in Deutschland aufwuchs, diente mehr als 20 Jahre lang als Offizier der Nationalgarde im Bundesstaat Washington. Er trat JWV vor allem deswegen bei, »weil ich das Andenken an meinen Vater lebendig halten und gleichzeitig etwas für aktive jüdische Soldaten tun wollte«, sagt er.
Max’ Vater war während des Krieges in Indien stationiert, wo er ein Nachschublager verwaltete, und nach dem Krieg in Deutschland, England und Okinawa, Japan, wo Robert Max zur Welt kam. »Für mich war es nichts Besonderes, dass Juden im Militär dienen.«
PROTEST Doch vielen Amerikanern sei die Rolle der Juden in den Streitkräften bis heute nicht bewusst, sagt Max. Und nicht nur bei Amerikanern ist offenbar noch einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten. Im Jahr 2017 erklärte die stellvertretende israelische Außenministerin Tzipi Hotovely, amerikanische Juden schickten »ihre Kinder nicht in den Krieg, um für ihr Land zu kämpfen«. Die meisten hätten ein ziemlich bequemes Leben. JWV schickte mehrere scharfe Protestnoten nach Jerusalem und rang der Ministerin schließlich eine umfassende Entschuldigung ab.
Auch in Korea und Vietnam, in Kuwait, Afghanistan und im Irak kämpften amerikanische Juden an der Seite ihrer nichtjüdischen Kameraden. Wie bei allen Veteranenorganisationen schrumpfen die Mitgliederzahlen allerdings auch bei den Jewish War Veterans.
»Als im Jahr 1973 die Wehrpflicht in den USA abgeschafft wurde, hatten wir noch sehr viele Veteranen des Zweiten Weltkriegs in unserer Organisation«, sagt Barry Schneider. Viele der ehemaligen Kämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Koreakrieg leben mittlerweile nicht mehr, und die Generation der Vietnam-Veteranen wird als nächste abtreten. »Und heute haben unsere Streitkräfte sehr viel weniger aktive Mitglieder«, setzt Schneider hinzu.
Familie Dennoch ist er zuversichtlich. Die meisten Veteranen der Kriege in Afghanistan und im Irak seien noch relativ jung und damit beschäftigt, ihr Leben zu leben – Beruf, Familie, Kinder. In zehn, spätestens 15 Jahren seien sie so weit, dass sie sich stärker in einer Organisation wie JWV engagieren würden, prophezeit der Vorsitzende. »Und dann werden wir wieder einen Anstieg bei unseren Mitgliederzahlen verzeichnen.«
In der Zwischenzeit sei es wichtig für die Organisation der Jüdischen Kriegsveteranen in Amerika, relevant zu bleiben, offen für Juden und Nichtjuden, ohne dabei den Kern ihrer Mission aus den Augen zu verlieren: ein Zuhause zu bieten, eine Familie von Gleichgesinnten, eben ein Stück »Jiddischkeit«.