Ob Parteien, Gewerkschaften, Medien oder Kultur: Überall in Belgien findet sich die Spaltung in einen flämisch sprechenden und einen frankofonen Zweig. Bei jüdischen Institutionen ist das nicht anders – mit Ausnahme des Consistoire Central Israélite de Belgique. Der emeritierte Judaistik-Professor Julien Klener ist seit elf Jahren dessen Präsident – und damit der höchste Repräsentant der jüdischen Gemeinden gegenüber dem belgischen Staat.
Auf der anderen Seite steht immer noch ein Vakuum – wenn auch eine Minimalversion der Regierung, die im April 2010 über den Sprachenstreit fiel, kommissarisch die Geschäfte weiterführt. Das Ergebnis der Neuwahlen – im Norden mehr denn je flämisch-separatistisch und rechts, im Süden pro-belgisch und links – verschärfte die Krise noch.
Kompetenzen Vergangene Woche wurde ein erneutes Scheitern der Koalitionsverhandlungen im letzten Moment abgewendet. Wie immer geht es um Kompetenzen der Regionen Wallonie, Flandern und Brüssel und um Sprachrechte, die um so komplexer sind, je näher man dem zweisprachigen Gebiet rund um die Hauptstadt kommt.
Wie sich das auf die Juden im Land auswirkt? Julien Klener antwortet vorsichtig: »Wir stellen uns natürlich die gleichen Fragen wie alle Belgier.« Wann wird endlich ein Kompromiss gefunden, oder ist die Kluft zwischen den Landesteilen überhaupt noch zu überbrücken? »Traurig« fände es der Präsident, sollte Belgien auseinanderfallen. Aber wie ernst ist die Lage? Klener wird diplomatisch. »Eine philosophische Frage. Ich mag keine Konflikte. Aber ist ein Staat in der Lage, den Rhythmus der Geschichte zu durchbrechen? Sollte die Mehrheit der Belgier sich trennen wollen, wird das nicht zu verhindern sein. Aber wenn schon, dann hoffe ich, dass dies demokratisch passiert.«
Auch die jüdischen Institutionen im Land spiegeln die Zustände wider. Dazu gehört, dass Klener seit Generationen der erste Flame an der Spitze des Consistoire ist. Bis vor einigen Jahrzehnten fielen die höchsten Ämter in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Regel meist Frankofonen zu. Inzwischen hat sich dieser Schwerpunkt zugunsten des nördlichen Landesteils verlagert.
Noch immer indes ist die gemeinsame Sprache eher Französisch, denn die Flämisch-Kenntnisse in der Wallonie sind oft begrenzt. Auch bei den offiziell zweisprachigen Versammlungen des Konsistoriums ist Französisch die lingua franca. Probleme allerdings, sagt Klener, gebe es zwischen den beiden Gruppen keineswegs. Der Gegensatz auf jüdischer Ebene liegt eher zwischen dem streng religiösen Antwerpen und dem laizistisch geprägten Brüssel.
»Auf einer Wellenlänge« sieht auch Maurice Sosnowski die Juden beiderseits der Sprachgrenze. Und doch: »Kulturell und politisch gibt es einige Unterschiede«, sagt er. »Auch wir Juden sind im Süden eher progressiv und im Norden konservativer.« Ersteren Teil präsentiert Sosnowski, Anästhesiologie-Professor am Brüsseler Uni-Klinikum und seit 2010 Direktor des Comité de Coordination des Organisations Juives de Belgique (CCOJB), das säkulare jüdische Institutionen vertritt.
Die flämische Seite schloss sich 1993 zum Forum der Joodse Organisaties (FJO) zusammen, weil sich regionale Politiker einen gleichsprachigen jüdischen Adressaten wünschten. Ehrenvorsitzender des FJO ist Eli Ringer, der diese Parallel-Strukturen durchaus ambivalent sieht: »Jüdische Institutionen haben die Teilung entlang der Sprachgrenze in den vergangenen Jahren weitgehend nachvollzogen.« Doch sei es, gerade aus jüdischer Sicht, sehr wichtig für Belgien, dass auch künftig beide Seiten zu Zugeständnissen bereit sind. »Denn Nationalismus und Spaltungstendenzen waren historisch gesehen nie gut für uns Juden.« Auf die Frage nach der Identität hat Ringer eine klare Antwort: »Auf jeden Fall sind wir zuerst Belgier und erst dann Wallonen oder Flamen«, sagt er – und ergänzt: »Nun ja, vielleicht sind wir zuallererst Juden.«
Befindlichkeiten Zwischen den beiden Polen liegt die Hauptstadtregion Brüssel. Ihre Bevölkerung ist international wie nirgendwo sonst im Land – auch die jüdische. Ein Beispiel liefert die Gemeinde in Waterloo, nur wenige Kilometer von der Sprachgrenze entfernt. Die Mitglieder kommen aus Belgien, England, Frankreich, Israel und Marokko. Die sprachlichen Befindlichkeiten vor Ort bleiben vielen Zugezogenen ein Geheimnis. Die Freunde Ralph Spencer und David Goodman etwa, beide aus London und seit über zehn Jahren in Belgien, wundern sich über das Maß an Identitätspolitik in Belgien. »Das ist seltsam für uns, die wir alle ganz gemischte Hintergründe haben«, sagt Spencer. Und Goodman ergänzt: »Zudem haben wir etwas viel Stärkeres, und das ist unsere jüdische Identität.«
Diese steht auch hinter der politischen Biografie von Viviane Teitelbaum. Die 55-Jährige sitzt für die frankofone liberale Partei Mouvement Réformateur (MR) im Regionalparlament von Brüssel. Geboren und aufgewachsen ist sie in Antwerpen, wo damals in vielen jüdischen Familien Französisch gesprochen wurde. Die Publizistin steht damit für das alte Belgien, mehrsprachig und kulturell hybrid, das nicht mehr von dieser Zeit zu sein scheint. Gerade durch ihre Herkunft aber, sagt Teitelbaum, kenne sie beide Seiten des Dauerkonflikts. »Und dadurch kann man miteinander verhandeln, statt einander zu erniedrigen.« Wünschen würde sie sich das bei mehr Politikern.