Die Wahlen zum Europäischen Parlament stehen an, in jedem EU-Mitgliedsland gibt es jüdische Gemeinden, und alle sind von der Politik, sei es aus Brüssel oder sei es aus ihrer nationalen Hauptstadt, betroffen. Es geht um die Abwehr von Antisemitismus, den Schutz jüdischer Einrichtungen und die Förderung jüdischen Lebens. Wir haben uns in 18 der 28 EU-Staaten umgesehen.
IRLAND: Jüdischer Schein-Boom
Ist Irlands jüdische Gemeinde stark gewachsen? Der 2017 veröffentlichte Zensus legte das nahe. Demnach lebten 2016, zum Zeitpunkt der Erhebung, 2500 Juden auf der grünen Insel, 30 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Der (mutmaßliche) Grund: In Irland haben multinationale Tech-Unternehmen ihren Europasitz, darunter Facebook, Google, Apple und Medtronic, die auch zahlreiche Israelis und Amerikaner beschäftigen. Doch Maurice Cohen zweifelt an den Zahlen. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Irlands glaubt, dass viele der 2016 erfassten Juden, die meisten von ihnen israelische Mitarbeiter von Intel, die Insel bereits wieder verlassen haben. Die Gemeinde sei überaltert und schrumpfe. Dennoch gebe es einen Anstieg jüdischer Expats in Irland. Doch sehe man sie nur selten bei Gemeindeveranstaltungen, so Cohen.
GROSSBRITANNIEN: Vor dem Brexit
Ms. Newman, warum ist der Brexit schlecht für Juden?
»Weil wir der EU unsere Antidiskriminierungsgesetze verdanken. Seit dem Referendum 2016 steigt der Antisemitismus hier an.«
Karen Newman, stellvertretende Vorsitzende von Liberal Judaism und Europawahl-Kandidatin für die Partei Change UK
Mr. Forman, warum ist der Brexit gut für Juden?
»Weil Europa zunehmend gefährlicher wird für Juden und sie für wirtschaftliche Fehlentwicklungen wie den Euro zum Sündenbock gemacht werden.«
Lance Forman, jüdischer Unternehmer und Europawahl-Kandidat der Brexit-Partei
FRANKREICH: Anti-BDS ist Gesetz
Die antiisraelische BDS-Bewegung hat in Frankreich einen schweren Stand. Zwar gibt es zahlreiche Franzosen, die dem jüdischen Staat gegenüber ablehnend eingestellt sind. Aber seit Jahren ist der öffentliche Aufruf zum Boykott israelischer Waren oder Einrichtungen als »Anstiftung zur Diskriminierung« strafbar. 2010 wies die damalige Justizministerin Michèle Alliot-Marie die Staatsanwaltschaften des Landes an, rigoros gegen solche Aktivitäten vorzugehen. Embargos gegenüber Ländern darf nach französischem Recht nur der Staat verhängen, nicht aber private Einzelpersonen oder Organisationen. Allerdings ist das Verbot in Frankreich sehr umstritten. Kritiker sagen, es schränke die Meinungsfreiheit in unzulässiger Weise ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg berät noch über den Fall.
SPANIEN und PORTUGAL: Jüdischer Aufschwung
Portugals Bevölkerung schrumpft. Dennoch gibt es einen gegenläufigen Trend: Die Anzahl jüdischer Staatsbürger nimmt zu. Zumindest auf dem Papier. Seit 2015 können weltweit Menschen, deren Vorfahren einst als Juden in Portugal lebten und nach 1497 des Landes verwiesen wurden, den portugiesischen Pass beantragen und so automatisch EU-Bürger werden. 1713 Menschen wurden 2017 auf Antrag eingebürgert. Sie stellen damit die größte Einzelgruppe, gefolgt von Neubürgern aus Brasilien.
Auch Spanien verabschiedete 2015 ein Gesetz, das sefardischen Juden weltweit die Staatsangehörigkeit anbietet. Seitdem wurden so bereits mehr als 4000 Menschen spanische Staatsbürger – und viele Anträge werden derzeit noch bearbeitet. Auch Nichtjuden können sich um die Einbürgerung bewerben. Bedingung ist, dass sie nachweisen, dass ihre Vorfahren einst in Iberien lebten und Juden waren – und dass die Antragsteller einen Bezug zu Spanien haben.
Im Jahr 2000 erkannte das schwedische Parlament die jüdische Gemeinde offiziell als eine der fünf Minderheiten des Landes an.
SCHWEDEN: Gefördert, doch bedroht
Allein im Jahr 2018 wurden in Malmö 35 antisemitische Verbrechen gemeldet. Damit ist die südschwedische Stadt trauriger Spitzenreiter im Land. Aber dass es auch in anderen Orten gefährlich wird, zeigt die jüngste Meldung: In Helsingborg wurde Anfang des Monats eine 60 Jahre alte Rebbetzin auf offener Straße niedergestochen. Etwa 20.000 Juden leben in Schweden. In den 40er-Jahren bot das Land vielen Zuflucht, doch erst im Jahr 2000 erkannte das Parlament die jüdische Gemeinde offiziell als eine der fünf Minderheiten des Landes an – und Jiddisch als Minderheitensprache.
DÄNEMARK: Koscher durch Import
Dänische Juden leben in Kopenhagen, zumindest 95 Prozent der mehr als 2000 Gemeindemitglieder. In der Hauptstadt gibt es die Große Synagoge, dazu noch eine kleinere orthodoxe, wo man auch koschere Lebensmittel kaufen kann. Nördlich von Kopenhagen, im Badeort Hornbaek, gibt es ein Hotel, das koschere Verpflegung anbietet. Doch ebenso wie in anderen EU-Ländern muss das Fleisch importiert werden, Schächten ist verboten.
BELGIEN: Diskussion um Schächtverbot
Die beiden großen belgischen Regionen Flandern und Wallonien haben vor Kurzem das Töten von Tieren ohne vorherige Betäubung generell verboten. Ausgenommen davon sind zwar Jäger, nicht aber die Religionsgemeinschaften. Einfuhr, Verkauf und Verzehr von koscherem Fleisch bleiben weiterhin erlaubt, das Schächten allerdings nur noch in der Region Brüssel. Während viele Muslime in Belgien Halal-Fleisch essen, werden nur ein paar Hundert Tiere im Jahr nach jüdischem Ritus geschlachtet. Verbände sind trotzdem vor das belgische Verfassungsgericht gezogen, und die Richter dort haben den Fall dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Das Grundsatzurteil der Luxemburger EU-Richter könnte weitreichende Folgen haben. Auch in den Niederlanden drängt die Tierschutzpartei nun wieder auf ein komplettes Verbot.
ITALIEN: Museum in der Provinz
In der 135.000-Einwohner-Stadt Ferrara gibt es ein nationales jüdisches Museum zur über 2000-jährigen Geschichte der Juden in Italien. Dagegen verhindert Bürokratie ein lange geplantes Holocaust-Museum in Rom.
Seit April hat auch Griechenland
einen Beauftragten zur Bekämpfung
des Antisemitismus und der
Leugnung der Schoa.
GRIECHENLAND: Gedenken trotz Neonazis
Seit April hat auch Griechenland einen Antisemitismusbeauftragten. Efstathios C. Lianos Liantis wurde von der Regierung berufen, um Judenhass und Schoa-Leugnung zu bekämpfen. Dass dieses Amt wichtig ist, zeigen die Wahlerfolge der Neonazipartei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte), die 2015 mit fast sieben Prozent Wählerstimmen 18 Parlamentssitze eroberte. Die größten jüdischen Gemeinden des Landes, Athen und Thessaloniki, unterstützen die Regierung bei ihren Reparationsforderungen an Deutschland. Es gebe noch offene Rechnungen aus der Zeit der Schoa.
FINNLAND: Unsicher mit Geschichte
Die jüdische Gemeinde Helsinki, mit 1200 Mitgliedern die größte des Landes, muss die Hälfte ihres Budgets für Sicherheit aufwenden. Dass jüdisches Leben im Land beschaulich sei, lässt sich nur partiell behaupten. Bürgerrechte haben Juden erst seit 1917, die Geschichte des »Freiwilligen-Bataillons der Waffen-SS« ist bis heute nur partiell aufgearbeitet.
LITAUEN: Hauptstadt des Jiddischen
Die Hauptstadt Vilnius (Wilna) galt einst als das »Jerusalem des Nordens«. 800 Jahre lang war Jiddisch die von Aschkenasen meistgesprochene Sprache. Heute beherrschen sie nur noch ganz wenige. In Vilnius gibt es aber wieder Institute, die sich dem Jiddischen widmen. So bietet das International Yiddish Center des Jüdischen Weltkongresses seit einigen Jahren Programme und Fortbildungen für Jiddischlehrer an. Auch das Jiddische Wissenschaftliche Institut YIVO wurde 1925 in Wilna gegründet, sitzt aber seit 1940 in New York. Es besitzt ein Archiv mit fast 400.000 Büchern und 24 Millionen Manuskripten, Fotos, Filmen und Postern.
POLEN: Museen und jüdisches Leben
Über die Zahl von derzeit in Polen lebenden Juden gibt es sehr unterschiedliche Angaben: Um die 3000? Etwa 10.000? Sicher hingegen ist die Zahl jüdischer Friedhöfe: 1200 gibt es in dem Land, in dem einst mehr als drei Millionen Juden lebten. Doch während der Schoa wurden etwa 85 Prozent von ihnen ermordet. In großen Städten wie Krakau wird heute jüdische Kultur gefördert: Es gibt Klezmer-Festivals, koschere Restaurants, Museen – und restaurierte Friedhöfe.
TSCHECHIEN: Hoffen auf Zuwanderer
Der Antisemitismus ist hier im Vergleich zu anderen Ländern Europas auf dem niedrigsten Stand. Die Beziehungen zu Israel sind bestens, die Wirtschaft boomt. Dennoch verliert die 3000-köpfige jüdische Gemeinde stetig Mitglieder. »Es gibt schlicht zu wenig Nachwuchs«, sagt Tomas Kraus, Geschäftsführer der Föderation der jüdischen Gemeinden Tschechiens (FZO). »Was wir erleben, sind die Spätfolgen der Schoa. 95 Prozent der tschechischen Juden wurden von den Nazis ermordet, die Überlebenden von den Kommunisten vergrault.« Kraus hofft, dass der Fortbestand der jüdischen Gemeinschaft durch Zuwanderer gesichert werden kann. »Unsere Sprache ist natürlich für viele eine Barriere.«
Die Regierungskrise in Österreich
verzögert die geplanten Lockerung des Verbots der Doppelstaatsbürgerschaft.
ÖSTERREICH: Erstmal kein Doppelpass
Das Ende der Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ wird wohl zu einer Verzögerung bei der geplanten Lockerung des Verbots der Doppelstaatsbürgerschaft führen. Geplant war ein Gesetz, das es austrostämmigen Bürgern von Nicht-EU-Staaten ermöglicht hätte, den österreichischen Pass zu erwerben, ohne dafür ihre andere Staatsangehörigkeit aufzugeben. Allein in Israel hätte es rund 800 Schoa-Überlebende betroffen.
UNGARN: Sport und Synagoge
Zumindest in zweierlei Hinsicht ist Budapest, trotz der Regierung von Viktor Orbán und seiner Kampagne gegen den Philanthropen George Soros, 2019 so etwas wie die Hauptstadt des europäischen Judentums: Ende Juli werden dort die European Maccabi Games eröffnet; über 1000 Sportler und Sportlerinnen reisen an. Und: Die »Nagy Zsinagóga«, die Große Synagoge, ist mit 2964 Sitzplätzen Europas größtes jüdisches Gotteshaus.
BULGARIEN: Jüdische Schule
Im September öffnet in der Hauptstadt Sofia die erste jüdische Sonntagsschule, finanziert von der Lauder Foundation. Anfangs werden 88 Plätze in fünf Altersstufen angeboten, langfristig soll es zwölf verschiedene Klassen geben. In Sofia gibt es auch die »134. Schule«, früher eine jüdische Schule. Dort wird unter anderem Hebräisch als Fremdsprache gelehrt. Aber Gemeindepräsident Alexander Oscar sagt: »Es gab da jüngst einen Neonazi-Aufmarsch. Einige Schüler der 134. Schule unterstützten ihn.«
Die meisten Hochzeiten
von Israelis in der EU
finden auf Zypern statt.
ZYPERN: Heiratsinsel
Rund 300.000 Israelis stellen nach Russen und Briten die drittstärkste Touristengruppe auf der seit 1973 geteilten Insel. Der griechische Südteil – die Republik Zypern – ist international anerkannt, während der Norden – die Türkische Republik Nordzypern – türkisch besetzt ist. Die jüdische Gemeinde im Süden ist klein, und nur 25 jüdische Familien haben zyprische Wurzeln, aber mittlerweile leben dort rund 3000 Juden. Vor allem ist Zypern beliebt für israelische Hochzeiten: Wer ohne Rabbiner oder einen nichtjüdischen Partner heiraten möchte, landet oft in Zypern.