Tunesien

Jüdischer Sehnsuchtsort

Mit Thunfisch, Käse oder Hühnchen?», fragt Gabriel Yaish, Besitzer des Restaurants «Zina» in der Altstadt von Houmt Souk auf der tunesischen Insel Djerba. Der Gastwirt meint damit den Hauptbestandteil der Füllung seiner Briks, Teigtaschen, die er für jeden seiner Kunden frisch frittiert.

Sowohl die hebräischen Schriftzeichen draußen auf dem Schild wie auch die Kippa auf Yaishs Kopf zeigen, dass er jüdisch ist, und das in einem islamischen Land. Einem Land allerdings, dem Juden ihren kulinarischen Stempel aufgedrückt haben und in dem, zumindest auf Djerba, das Symbol der religiösen Identität offen getragen wird. Auch einige andere tunesische Spe­zia­li­täten wurden einst von Juden erfunden, so die gefalteten Mlawi-Teigfladen, Kefta-Hackbällchen oder die süßen Takwa-Sesamkugeln. In der Nähe von Tunis stellte im Jahr 1880 die jüdische Familie Bokobsa zum ersten Mal den typischen Feigenschnaps Boukha her, der zum tunesischen Nationalgetränk wurde.

sefarden Der jüdische Einfluss hat eine lange Geschichte. 1400 Jahre bevor im siebten Jahrhundert mit den Arabern der Islam nach Tunesien kam, flohen die ersten Juden vor den Babyloniern über Ägypten nach Libyen und ins südliche Tunesien. Ab Ende des 15. Jahrhunderts stießen dann sefardische Juden aus Spanien und Portugal hinzu, die die christlichen Herrscher von der Iberischen Halbinsel vertrieben hatten.

Heute machen Juden mit weniger als einem Promille einen verschwindend geringen Anteil an der tunesischen Gesamtbevölkerung aus. Lebten vor dem Zweiten Weltkrieg noch mehr als 100.000 Juden im Land, sind es heute gerade einmal etwa 2000. Rund 1300 von ihnen leben auf der Insel Djerba.

Frankreich Die meisten tunesischen Juden wanderten in den vergangenen Jahrzehnten nach Israel und Frankreich aus. Doch seit dem Sturz des Ben-Ali-Regimes Ende 2011 ist die Zahl nahezu stabil geblieben. «Wegen Djerba», sagt Jean Pierre Liscia, Vorstandsmitglied des tunesischen Sportverbands, «verschwinden wir Juden nie ganz aus Tunesien.» Die Insel sei ein jüdischer Sehnsuchtsort, letzte jüdische Bastion im Land und der Ort, an dem alles begann.

Die meisten tunesischen Juden wanderten in den vergangenen Jahrzehnten nach Israel und Frankreich aus.

Auf Djerba nämlich bauten die ersten Juden Nordafrikas auf einem Stein des zerstörten Jerusalemer Tempels die weltweit älteste Synagoge außerhalb Israels. Benannt nach der Heiligen La Ghriba, «der Wundertätigen», wurde das Bethaus im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zum Bezugspunkt all der Juden, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg verließen.

Zum Lag-BaOmer-Fest pilgern jedes Jahr Tausende Juden vor allem aus Israel hierher. Voller Freude und Solidarität mit der auf Djerba verbliebenen jüdischen Gemeinde feiern sie und zeigen, wie sehr sie sich immer noch mit der Heimat ihrer Vorfahren identifizieren.

Handwerk Im Gegensatz zu Europa konnten Juden in Tunesien schon immer jeden Beruf frei ausüben. Besonders beliebt war das Handwerk. Früher arbeiteten viele als Tischler und Schneider, später bestritten etliche Juden ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung, Reparatur und dem Verkauf von Gold- und Silberschmiedearbeiten.

Heute sind in der Rue de Bizerte noch drei Betriebe in jüdischer Hand, allesamt Schmuckgeschäfte. Simon Bittan betreibt seines bereits seit 1970 und hat es im Laufe der Zeit in ein kleines Judaica-Museum verwandelt. In vollgestopften Vitrinen zeigt er stolz eine alte Chanukkia. Die Decke seines Geschäfts ist ein farbenfrohes Kunstwerk, ein Raster aus unzähligen orientalischen und jüdischen Symbolen. Neben Davidsternen sieht man Halbmonde und die Hand der Fatima, die vor dem Bösen Blick schützen soll.

Der jüdische Einfluss im Land hat eine lange Geschichte.

So wie die beiden jüdischen Kollegen in seiner Straße liebt auch Simon Bittan seine Heimat Djerba und ist zufrieden mit seinem Leben, obwohl in letzter Zeit immer wieder Neid seitens der islamischen Mehrheitsgesellschaft zu spüren sei. Die Wirtschaft in Tunesien läuft nicht gut. Und seitdem sind die Juden wegen ihres Wohlstands nicht mehr so gern gesehen.

Doch wie die gesamte verbliebene jüdische Gemeinde möchte auch Simon Bittan Tunesien nicht verlassen. Während der Revolution im Jahr 2011, sagt er, habe die israelische Regierung drei Flugzeuge geschickt, um die Juden von Djerba zur Alija zu bewegen. Doch niemand sei eingestiegen, und die Flugzeuge mussten leer zurückkehren.

Frankreich ist auch keine Option mehr. Das Leben dort sei stressig und inzwischen viel gefährlicher als daheim. In Tunesien haben alle Juden Arbeit, sind selbstständig. Das helfe, die Jugend im Land zu halten. Neben den handwerklichen Arbeiten versorgen sie die gesamte Bevölkerung mit traditionellen Lebensmitteln. Viele besitzen Metzgereien oder Restaurants und sind wichtige Arbeitgeber für ihre muslimischen Landsleute.

Ähnlich äußert sich auch Yosi Elior Foued, einer der anderen beiden jüdischen Schmuckhändler in der Rue de Bizerte. Er habe einige Zeit in Frankreich gelebt, sagt er. Aber er sei zurückgekehrt, weil das Leben auf Djerba geruhsamer ist. Es gibt weniger Bürokratie, man habe sich gut mit den Behörden arrangiert. Außerdem halte ihn hier eine langjährige Freundschaft mit einem Muslim. Sie seien bekannt als ein Vorbild für den Frieden zwischen Juden und Muslimen, sagt er. Seit vielen Jahren arbeiten sie zusammen, respektieren und wertschätzen die Sitten und Gebräuche des jeweils anderen.

Zu einer Zäsur kam es in den 40er-Jahren. Bis dahin waren alle Tunesier gleich, hin und wieder heirateten Juden und Muslime gar untereinander.

Davidstern Jahrhundertelang genossen die Juden Tunesiens bei der Mehrheitsgesellschaft einen guten Ruf. Man kam gut miteinander aus, Juden galten als vertrauenswürdig und fleißig.

Zu einer Zäsur kam es in den 40er-Jahren. Bis dahin waren alle Tunesier gleich, hin und wieder heirateten Juden und Muslime gar untereinander. Der Davidstern galt nicht allein als jüdisches Symbol, sondern als allgemeines Schmuckobjekt. So zieren bis heute die Ez-Zitouna, die größte Moschee in Tunis, sechs Davidsterne.

Doch mit der Besetzung Tunesiens durch die deutsche Wehrmacht 1942 und dann endgültig nach der Gründung des Staates Israel 1948 wurde der Davidstern zum Symbol des Judentums und des Zionismus. Seitdem werfen Konflikte zwischen Juden und Muslimen in Israel ihre Schatten auch auf das Verhältnis beider Gruppen in Tunesien.

Zu ersten Ausschreitungen kam es in Tunesien nach dem Sechstagekrieg 1967. Damals verwüstete ein Mob die größte Synagoge des Landes und brannte sie nieder.

Bis zur Revolution 2011 erhielten Juden von der Regierung keinerlei Unterstützung. Ihre Existenz im Land wurde geleugnet, ja nicht einmal in Geschichtsbüchern wurden sie erwähnt. Über La Ghriba hörte man im Ausland mehr als in Tunesien.

Eine bedrohliche Dimension bekam der Islam in den Jahren 1979 bis 1994, als die Arabische Liga wie auch die PLO ihre Hauptquartiere in Tunis hatten. All das veranlasste viele Juden, das Land zu verlassen.

Die Einreisebestimmungen für Israelis wurden gelockert, seit einigen Jahren besucht auch der Imam von Djerba die jüdische Wallfahrt.

«Arabischer Frühling» Seit dem «Arabischen Frühling» folgt Tunesien dem liberal-islamischen Marokko auf dem Weg zu einem Klima von Frieden und Toleranz zwischen den Religionen. So stehen Juden jetzt alle politischen Ämter offen, und offiziell unterscheidet man nicht mehr zwischen Juden und Muslimen.

Vor einigen Monaten wurde mit dem 56-jährigen René Trabelsi ein djerbischer Jude Tourismusminister. Und in der Stadt Monastir ist Gemeindemitglied Simon Sa­lameh sogar Vorsitzender der islamischen Ennahda-Partei.

Parteisprecher und Parlamentsabgeordneter Imad al Khmairy bekräftigt, die Partei sei offen für alle in der tunesischen Gesellschaft, die politische Mitwirkung eines Juden sei ein Zeichen der Toleranz, und alle könnten unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit in der öffentlichen Verwaltung arbeiten.

Dieser neue Wind hat auch die La-Ghriba-Synagoge erreicht. So wurden die Einreisebestimmungen für Israelis gelockert, seit einigen Jahren besucht auch der Imam von Djerba die jüdische Wallfahrt, und die Zahl der Pilger wächst Jahr um Jahr.

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