Die von Jeremy Corbyn geführte Labour Party erlebte ein wahres Debakel. Sie kam zwar auf 32,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, gewann damit aufgrund des Mehrheitswahlrechts aber nur 203 der 650 Wahlkreise – sechs weniger als 1983, dem bis dato schlechtesten Abschneiden der Partei in der Nachkriegszeit.
Johnsons Tories errangen zahlreiche Sitze in traditionellen Labour-Bastionen in Nordengland und in Wales, welche beim Referendum 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hatten. »Get Brexit Done« war der eingängige Slogan der Konservativen, und er kam bei fast der Hälfte der Wähler – gerade in den euroskeptischen Arbeitergegenden im Norden – gut an.
BREXIT Corbyns Versuch, eine neutrale Haltung in der Brexit-Frage einzunehmen und die Wähler mit einem Füllhorn an sozialen Wohltaten für sich einzunehmen, für die lediglich die reichsten fünf Prozent der Steuerzahler aufkommen sollten, überzeugte dagegen nicht. Labour vermochte es auch nicht, seine Verluste unter Brexit-Befürwortern durch Gewinne im überwiegend EU-freundlichen Süden Englands, vor allem in der Hauptstadt London, wettzumachen.
Nach der Wahlpleite kündigt Jeremy Corbyn Rückzug als Labour-Chef an.
In Schottland gewann die nationalistische SNP, die sich für den Austritt aus dem Vereinigten Königreich, aber für die Mitgliedschaft in der EU einsetzt, fast alle Sitze.
Corbyn und seine Partei hatten im Wahlkampf noch mit einem weiteren Problem zu kämpfen: dem grassierenden Antisemitismus unter Labour-Mitgliedern und -Anhängern. Mehrere jüdische Fraktionsmitglieder verließen Labour vor einigen Monaten aus Protest.
EID Nur Tage vor der Wahl kam dann erneut das ganze Ausmaß des Problems ans Tageslicht. Laut einem Dossier des Jewish Labour Movements versicherten 70 Labour-Mitglieder und -Mitarbeiter an Eides Statt, von Parteigenossen mit antisemitischen Schmähungen wie »zionistischer Abschaum« traktiert worden zu sein. Ein Parteimitarbeiter hatte sogar die Aussage »Hitler hatte recht« gehört. Zuvor schon musste Labour mehrere seiner Wahlkreiskandidaten wegen antisemitischer Äußerungen in den sozialen Netzwerken zurückziehen.
In einem Gastbeitrag für die »Times« griff dann Anfang Dezember der britische Oberrabbiner Ephraim Mirvis in den Wahlkampf ein. Mirvis warnte explizit vor einer Wahl Corbyns zum Premierminister. Letzterer sei nicht energisch genug gegen judenfeindliche Tendenzen in der Partei vorgegangen und daher ungeeignet für das wichtigste Regierungsamt. Vom Simon Wiesenthal Center wurde Corbyn Anfang dieser Woche sogar auf Platz 1 der Liste der zehn größten Antisemiten weltweit gesetzt. Niemand habe mehr getan, um Judenfeindlichkeit im politischen Mainstream zu verankern, befand das Zentrum.
Unter den rund 200.000 jüdischen Wählern hatte Labour von Vornherein keine Chance.
Das Jewish Labour Movement weigerte sich sogar, Wahlkampf für den Labour-Chef zu machen. Vor seiner Wahl im Jahr 2015 hatte sich Corbyn regelmäßig mit radikalen Palästinensergruppen getroffen und für den Boykott Israels ausgesprochen. Darüber hinaus arbeitete er für das iranische Staatsfernsehen »Press TV«.
Eine Umfrage des Jewish Leadership Council ergab jüngst, dass fast die Hälfte aller britischen Juden im Falle eines Wahlerfolgs des linken Politikers mit einer möglichen Auswanderung beschäftigt hätten.
Unter den rund 200.000 jüdischen Wählern hatte Labour daher von Vornherein keine Chance. Bis zur Auszählung unklar war jedoch, wie sehr die Antisemitismus-Vorwürfe ihm und Labour in der nichtjüdischen Bevölkerung schaden würden und welche Partei daraus den größten Nutzen würde ziehen können.
Die Liberaldemokraten, zu denen mehrere Labour-Abgeordnete aus Protest gegen Corbyn abgewandert waren, schafften trotz eines Stimmenzugewinns von 3 Prozentpunkten nicht den erhofften Durchbruch bei den Sitzen. In Schottland verlor die erst im Juli gewählte LD-Parteichefin Jo Swinson sogar ihr Mandat und trat daraufhin zurück. Die jüdische Ex-Labour-Abgeordnete Luciana Berger scheiterte ebenso deutlich bei dem Versuch, Finchley & Golders Green, den früheren Wahlkreis Margaret Thatchers im Norden Londons – für die Liberaldemokraten zu gewinnen. Dort leben viele orthodoxe Juden.
Labour-Abgeordnete Ruth Smeeth hatte Corbyn vor Kurzem vor Publikum auf den Kopf zugesagt, er sei ein Antisemit.
Auch die Corbyn-kritische jüdische Labour-Abgeordnete Ruth Smeeth verfehlte in Stoke-on-Trent den Wiedereinzug ins Parlament. Margaret Hodge ist damit künftig die einzige jüdische Labour-Abgeordnete. Sie hatte Corbyn vor Kurzem vor Publikum auf den Kopf zugesagt, er sei ein Antisemit. Auch dem jüdischen britischen Außenminister Dominic Raab von der Konservativen Partei gelang es, seinen Wahlkreis zu verteidigen. Auch dem jüdischen britischen Außenminister Dominic Raab von der Konservativen Partei gelang es, seinen Wahlkreis zu verteidigen.
ERLEICHTERUNG Nach Ansicht von Johnsons Minister Michael Gove wollten die Wähler mit ihrer Stimmabgabe auch Corbyns »extremistische und antisemitische Politik« zurückweisen. »Monatelang haben Sie in Furcht leben müssen vor einem möglichen Premierminister, der antijüdische Rhetorik vorantreibt und Terroristen umarmt,« sagte Gove am frühen Morgen.
Corbyn hatte zuvor angekündigt, bei der nächsten Unterhaus-Wahl nicht mehr als Spitzenkandidat anzutreten. Einen sofortigen Rücktritt als Parteichef schloss er aber aus. Stattdessen wolle er den Übergang moderieren.
Der israelische Außenminister Israel Katz vom konservativen Likud reagierte erfreut auf die Frühnachrichten aus London. Boris Johnsons Erfolg sei ein »Sieg der Werte« über den Antisemitismus. Israels Präsident Reuven Rivlin reagierte ebenfalls auf Twitter auf den Wahlausgang.
Auch Stephen Pollard, Chefredakteur der »Jewish Chronicle«, der wichtigsten jüdischen Wochenzeitung des Landes, gab sich zufrieden. Auf Twitter schrieb er: »Ich habe gerade meinen Kindern gesagt, dass wir das Land nun doch nicht verlassen müssen. Erleichterung und Dankbarkeit allerorten. Aber das ist noch nicht vorbei. Der neue Labour-Vorsitzende wird die Kultur in der Partei ändern müssen – zwar war es die Führung, die den Judenhass zuließ, aber er kam aus der Mitgliedschaft.«
Londons ehemaliger Bürgermeister und Corbyn-Freund Ken Livingstone, der selbst vor zwei Jahren wegen umstrittener Äußerungen zu einer angeblichen Zusammenarbeit Hitlers mit den »Zionisten« die Labour Party hatte verlassen müssen, hatte schon kurz nach Schließung der Wahllokale am Donnerstagabend die Schuldigen ausgemacht. Er sagte der »Press Association«, das »Abstimmungsverhalten der jüdischen Wähler« habe Labour geschadet. »Es sieht so aus, als sei dies das Ende von Jeremy. Ich bin sicher, er wird morgen zurücktreten müssen.« mth
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