Dänemark

Jüdisch in Aarhus

Der jüngste Jude von Aarhus schläft schlecht. Mit seinen dunklen Augen schaut der sieben Monate alte Noah aufgeweckt in die Welt und lächelt jeden an, der ihm halbwegs freundlich ins Gesicht blickt. Ein munteres Bürschlein sei er, sagen viele. »Ja – leider auch nachts«, erwidert seine Mutter und deutet auf ihre Augen, denen man ansieht, dass sie in der vergangenen Nacht wenig geschlafen hat. Rikke Evar ist 40 Jahre alt und hat neben Noah noch einen weiteren Sohn, den 14-jährigen Viktor. Bevor Noah zur Welt kam, arbeitete sie als Sozialarbeiterin in einem Krankenhaus.

Rikkes Mann Shimshon ist 60 und kommt aus Israel. Die beiden und ihre Söhne gehören zu den wenigen Juden in Aarhus. Eine offizielle Gemeinde gibt es schon seit Langem nicht mehr. Zwar kamen Ende der 60er-Jahre etliche Juden aus Polen nach Dänemark, und einige ließen sich auch in Aarhus nieder, sodass damals bis zu 200 Juden in der Stadt lebten. Doch einen nachhaltigen Auftrieb hat dies den Juden von Aarhus nicht beschert.

Amerika »Wir sind heute eine sehr kleine Gruppe, nur 80 bis 100, und einige von uns leben außerhalb der Stadt«, sagt Shimshon Evar. Viele seien alt. Zwischenzeitlich hätten sich zwar auch einige Israelis in Aarhus niedergelassen, so wie er, »aber die meisten sind längst nach Amerika weitergezogen«.

Shimshon kam Ende der 60er-Jahre nach Aarhus. Eigentlich wollte er nur seinen Bruder besuchen. Den hatte es hierher verschlagen, weil er sich in eine Dänin verliebt hatte. Shimshon gefiel es in Nordeuropa, und so blieb er.

Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, eröffneten die Brüder eine Bäckerei für Pitabrot. Die orientalischen Teigfladen waren damals in Dänemark noch weitgehend unbekannt. »Wir haben die Pita nach Europa gebracht«, sagt Shimshon stolz.

Ob das stimmt, lässt sich schwer nachprüfen. Doch fest steht: Die Bäckerei war erfolgreich, und von dem, was sie abwarf, konnten die Brüder gut leben. So gut, dass Shimshon inzwischen ein Hotel besitzt: »The Mayor«, zu Fuß zwei Minuten vom Bahnhof entfernt, vom Rathaus ist es gar nur eine Minute. Shimshons Hotel ist, wenn man so will, das erste Haus am Platz: ein gelber Klinkerbau, 162 Zimmer, vier Sterne – eine eigene Bäckerei und ein Restaurant, das 2016 zum besten in ganz Aarhus gekürt wurde.

Jütland Aarhus nennt sich gern »Verdens mindste storby« – die kleinste Großstadt der Welt. Rund 260.000 Menschen leben hier. In Mitteljütland gelegen, ist es ein Gegenpol zur Hauptstadt Kopenhagen. Klein und überschaubar – es gibt einen Containerhafen, einen Dom, eine Universität, mehrere Kunstmuseen von Weltrang und im Südwesten der Stadt ein Schloss. Darauf sind die Bürger von Aarhus besonders stolz – auch wenn sie es nicht betreten dürfen, denn Dänemarks Königin Margrethe verbringt dort regelmäßig ihre Sommerferien. Noch stolzer aber sind sie darauf, dass Aarhus 2017 Europäische Kulturhauptstadt ist.

Dutzende Ausstellungen, Vorträge, Lesungen und Konzerte stehen auf dem Programm, das den Titel »Neu denken« trägt. Bent Sörensen, einer der Kulturhauptstadt-Manager, betont, das Programm habe »viel mit Glauben« zu tun. Es falle ein wichtiges Jubiläum ins Kulturhauptstadtjahr: der 500. Jahrestag von Luthers Reformation, dem Thesenanschlag in Wittenberg.

Man wolle fragen, ob diese Thesen in einer modernen Gesellschaft noch wichtig seien, erklärt Sörensen. »Wo stehen sie im Verhältnis zu den großen Fragen heute – wie Migration und Gleichberechtigung?« Schließlich leben rund 20.000 Muslime in der Stadt. »Wir wollen mit Muslimen, Juden und Christen – mit allen, die an diesen Fragen interessiert sind – darüber nachdenken und vielleicht auch einen gemeinsamen Gottesdienst feiern«, sagt Sörensen.

Die Idee mag gut gemeint sein. Bei dänischen Juden weckt sie unangenehme Erinnerungen: Im 17. Jahrhundert wurde die jüdische Gemeinde mehrere Jahre lang gezwungen, jeden Sonntag den lutherischen Gottesdienst zu besuchen.

Synagoge Rikke und Shimshon Evar werden an einem solchen Gottesdienst wohl nicht teilnehmen. Ein Großteil des jüdischen Lebens der Stadt spielt sich bei ihnen zu Hause oder in ihrem Hotel ab, denn eine Synagoge gibt es in Aarhus seit Langem nicht mehr.

In Evars Hotel feiern manche jüdische Familien der Umgebung ihre Feste. Und gelegentlich kommt man dort auch am Schabbat oder an den Hohen Feiertagen zusammen. »Doch niemals an Jom Kippur«, betont Shimshon Evar. Den begehe man in der Synagoge in Kopenhagen. »Wir wollen das Ereignis fühlen. Ich denke, man sollte am Versöhnungstag unbedingt den Rabbiner hören – schließlich ist es der wichtigste Tag im Jahr.«

Aber auch im Laufe des Jahres verspüren Rikke und Shimshon Evar hin und wieder das Bedürfnis nach einem echten Schabbat in der Synagoge und fahren deshalb in die Hauptstadt. Dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt mit dem Auto.

»Wir müssen dann am Freitag früher mit der Arbeit aufhören, damit wir Kopenhagen erreichen, noch bevor der Schabbat beginnt«, sagt Rikke Evar. Das Essen bringen sie von zu Hause mit, es wird vorgekocht. Wenn der Schabbat vorbei ist, fahren sie wieder nach Hause. Das sei nicht einfach, man müsse es gut planen, sagt Rikke Evar. »Manchmal ist es unmöglich für uns, vor Eingang des Schabbats in Kopenhagen zu sein, vor allem in den dunklen Monaten, wenn die Sonne hier im Norden schon um vier Uhr untergeht und der Schabbat so früh beginnt.« Sie seufzt: Ja, es sei beschwerlich, ein Jude in Aarhus zu sein. »Es fehlt uns hier an fast allem, was jüdische Menschen brauchen.«

Das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert gab es eine Synagoge in Aarhus. Die hatte der Kaufmann Hartvig Philip Rée um das Jahr 1820 im Hinterhof seines Hauses in der Vestergade bauen lassen. Rée galt als reichster Mann von Aarhus – zumindest zahlte er die meisten Steuern – und war sehr angesehen in der Stadt. Dies führte dazu, dass mit ihm erstmals in Dänemark ein Jude in einen Magistrat gewählt wurde.

Familienfeste Zu Rées Lebzeiten besuchten nicht nur Juden die Synagoge. An den Hohen Feiertagen, bei Familienfesten oder wenn König Frederik VI. Geburtstag hatte, ließen sich auch Rées christliche Stadtratskollegen im jüdischen Bethaus sehen.

Rée war offenbar nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern machte sich auch einen Namen als Dichter von Gesängen für den Synagogengottesdienst. Darüber hinaus zählte sein Wort in der jüdisch-theologischen Debatte in Dänemark – und das, obwohl er kein Rabbiner war.

Reé ist es zu verdanken, dass die Juden von Aarhus 1824 einen eigenen Friedhof bekamen. Er wurde bis 1905 als Begräbnisstätte genutzt und gilt heute, wenn man so will, als einziges sichtbares Zeugnis jüdischen Lebens in der Stadt. Ein Ort der Ruhe ist er jedoch längst nicht mehr, denn direkt neben dem Gräberfeld hinter dem schmiedeeisernen Gitter rast auf der vierspurigen Frederiks-Allee der Verkehr vorbei. Viele Passanten sind überrascht, wenn sie mitten in der Stadt am Straßenrand plötzlich auf einen jüdischen Friedhof stoßen.

Wer heute durch Aarhus spaziert, kann sich kaum vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der jüdisches Leben in der Stadt sehr präsent war. Heute ist es den Juden von Aarhus lieber, wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In einer Zeit, da sich Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Europa häufen, hält man sich bedeckt.

Terror Als vor zwei Jahren ein islamistischer Terrorist vor der Kopenhagener Synagoge einen Wachmann erschoss, sorgten sich die dänischen Sicherheitsbehörden auch um die wenigen Juden von Aarhus. »Die Polizei fing an, auf uns aufzupassen«, sagt Shimshon Evar. »Sie kamen zu unserem Wohnhaus, hatten Tag und Nacht ein Auge auf uns, wollten bereit sein für den Fall, dass etwas Ähnliches auch in Aarhus geschehen würde.«

Gott sei Dank passierte nichts. Damit das so bleibt, versuchen die Juden von Aarhus, möglichst wenig in die Öffentlichkeit zu gehen. So kommt Jüdisches auch im Programm des Kulturhauptstadtjahres nicht vor.

www.aarhus2017.dk/de

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