Für einen gewöhnlichen Mittwochmorgen ist der Konferenzsaal des Londoner jüdischen Kulturzentrums JW3 ziemlich voll. Den ganzen Tag über sind Vorträge geplant, später soll es auch einen Empfang geben. Am folgenden Tag wird es mit Seminaren weitergehen.
Beachtlich ist die Ausdauer der Teilnehmer, die die Vorträge konzentriert verfolgen. Etliche von ihnen sind zwischen 85 und 97 Jahre alt. Das Thema der Seminare behandelt ihre Geschichte, und wie sie vor mehr als 70 Jahren aus Deutschland, Ungarn oder Österreich nach Großbritannien kamen.
Zeitzeugen Anlass der Konferenz ist das 75-jährige Gründungsjubiläum des Verbands jüdischer Flüchtlinge, der Association of Jewish Refugees (AJR). Er ist das Herz deutschsprachiger Juden im Exil in Großbritannien. Mit den verbleibenden Zeitzeugen und deren Nachkommen möchte die AJR das Jubiläum feiern. Sie will aber auch Rückschau halten auf das, was die Einwanderung deutschsprachiger Juden in Großbritannien geleistet hat. Darüber hinaus sollen geschichtliche Lücken gefüllt werden, wie der Einsatz der Anglikanischen Kirche oder der Quäker zur Rettung jüdischer Flüchtlinge.
Peter Kurer (84), selbst Flüchtling aus Wien, verdankt den Quäkern seine Rettung. Doch sie hätten noch mehr getan, betont er. »Sie haben Chamberlain über den damaligen Innenminister Samuel Hoare, selbst Quäker, zur Aufnahme der Flüchtlinge überreden können. Und gleichzeitig genossen sie genug Vertrauen in Deutschland, weil sie im Ersten Weltkrieg dort Suppenküchen betrieben hatten.«
Identität Zwischen den Vorträgen ist die Atmosphäre leicht angespannt. Während Großbritannien die Älteren aus der Hölle des nationalsozialistischen Deutschlands rettete, sprechen nahezu alle Teilnehmer der zweiten und dritten Generation davon, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt haben. Zum einen hätten sie immer wieder das Gefühl, trotz allem mit Deutschland verbunden zu sein. Zum anderen könnten sie die Enge und den antieuropäischen Geist des bevorstehenden Brexit unmöglich mit der eigenen Identität vereinbaren.
Auch die Londoner Reformrabbinerin Julia Baroness Neuberger wird bald Deutsche sein. »Ich bin Britin, war aber niemals Engländerin, bin permanent Europäerin, mit deutschen Wurzeln und einem Grundstück in Irland«, verkündet sie vor den Versammelten.
Flüchlingshilfe Neuberger glaubt, dass ihr familiärer Hintergrund sie zur Verantwortung verpflichtet. »Er muss Basis unserer Hilfe für die heutigen Flüchtlinge sein!« Mit einem Hilfsprogramm für Flüchtlinge in der West London Synagogue möchte sie dieser Verantwortung gerecht werden.
Das Projekt schaute sie der Gemeinde des ebenfalls in einer Flüchtlingsfamilie geborenen Rabbiners Jonathan Wittenberg ab. Auch er ist hier und erzählt von jenen Verwandten, die aus Wien flüchteten, und den anderen, die man im Dritten Reich ermordete.
Im nächsten Teil der Veranstaltung haben wieder Zeitzeugen das Wort. Man staunt über die Klarheit und die Energie des ehemaligen Berliners Fritz Lustig (97): »Ich habe Großbritannien mit einem Ausbildungsvisum der Quäker betreten, und 77 Jahre später bin ich immer noch hier.« Sich des aufmerksamen Publikums bewusst, macht er einen Witz: »Vor Ihnen steht also einer der erste illegalen Einwanderer des Vereinigten Königreichs.«
Als man nach Beginn des Krieges alle Deutschen im Vereinigten Königreich als potenzielle Feinde betrachtete, wurde Lustig auf der Isle of Man interniert. Doch rasch ließ man ihn wieder frei. Er meldete sich bei der britischen Armee und diente bald im Geheimdienst, um mit seinen Sprachkenntnissen deutsche Kriegsgefangene in britischen Gefangenenlagern zu belauschen.
Hausmädchen Dann ergreift Hortense Gordon (96) das Wort. Als 19-Jährige verließ sie 1939 Breslau und kam in die südenglische Grafschaft Surrey, um dort als Hausmädchen in einem Gutshaus zu arbeiten. Ihr Hausarbeitsvisum, eines von 20.000, rettete ihr das Leben. Zwar kam sie mit heiler Haut davon, doch war die Arbeit alles andere als ein Zuckerschlecken: Ihr Tag begann um fünf Uhr morgens und dauerte bis in den späten Abend. »Ich hatte gar keine Zeit, über meine Lage nachzudenken«, gesteht sie.
Neben Lustig und Gordon kommt auch der Urenkel des großen Berliner Rabbiners Leo Baeck, James Dreyfus, aufs Podium. Er erzählt mit Tränen in den Augen von seinem Urgroßvater. Auf einem Schwarz-Weiß-Film sind er als kleiner Junge und Leo Baeck zu sehen.
Dann schildert der immer noch amtierende Labour-Oberhausabgeordnete Lord Alf Dubs (84), ehemaliger jüdischer Flüchtling aus der Tschechoslowakei, voller Stolz seinen derzeitigen Einsatz im britischen Parlament für die heutigen Flüchtlinge.
ERinnerung Am Ende des Tages betont AJR-Geschäftsführer Michael Newman, dass sich ein wichtiger Teil der Arbeit des Verbands seit vielen Jahren dem Erinnern widmet. So kümmert sich die AJR gemeinsam mit anderen Organisationen darum, dass in London eine nationale Holocaust-Gedenkstätte entsteht.
Am folgenden Tag will Newman zusammen mit den Zeitzeugen die Aufgaben der nächsten Generationen diskutieren. Die Jubiläumsfeier, sagt er, sei eine wichtige Gelegenheit, sich miteinander auszutauschen. Denn in einigen Jahren, betont er, werde das nicht mehr möglich sein
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