Bulgarien

Jüdisch auf dem Balkan

»Religion spielt bei uns eine wesentliche Rolle, doch sind wir ein säkularer Verband.« So beschreibt Verwaltungsleiterin Julia Georgieva die »Organisation der Bulgarischen Juden ›Schalom‹«. Jeder sei willkommen, egal ob observant oder Atheist. Sogar Nichtjuden können Mitglied werden, wenn sie familiäre Beziehungen zum Judentum haben, zum Beispiel durch Heirat.

Eines der wichtigsten Ziele des Dachverbandes ist es, die bulgarisch-jüdischen kulturellen Traditionen zu bewahren und das Judentum im Land zusammenzuhalten. Dafür wird viel getan.

Zeitschriften Der hauseigene Verlag bringt zwei Zeitschriften heraus: Das Magazin »La Es­treya« (Der Stern) erscheint zweimal im Jahr und beschäftigt sich mit Kulturthemen. Und die vor fast 100 Jahren gegründeten »Ewrejski Westi« (Jüdische Nachrichten) – die älteste Zeitschrift des Landes – berichtet alle zwei Wochen aus dem regen Leben der Gemeinschaft.

Gerade bereitet man in der Hauptstadt Sofia den Bau eines neuen Gemeindezentrums vor. Es soll die Sozialeinrichtungen, die Verwaltung, das Kulturzentrum, die Ronald-Lauder-Schule mit ihren 120 Schülern sowie einen Kindergarten beherbergen. Kinder und Jugendliche ans Judentum heranzuführen, hat in Bulgarien einen be­sonderen Stellenwert. Denn infolge von 40 Jahren Sozialismus verloren die Nachkriegsgenerationen – wie in den anderen ehemaligen Ostblock-Staaten – ihre jüdische Identität. »Auch ich hatte von den Bräuchen, den Festtagen oder gar dem Schabbat keine Ahnung, als ich mit 14 das erste Mal ins Sommercamp gehen durfte«, bekennt Julia Georgieva.

Die Organisation betreibt sogar ein kleines Krankenhaus: die Mazal-Klinik. Sie versucht, Lücken im morschen staatlichen Gesundheitssystem zu schließen. Bedürftige Familien werden finanziell unterstützt.

Für herausragende Beiträge zur lokalen jüdischen Kultur und zur Geschichtsaufarbeitung verleiht die Organisation Schalom den alljährlichen »Schofar-Preis«. Er ging zuletzt an die Grundschule der Ortschaft Petritsch nahe der griechischen Grenze. Die Schüler haben die dramatische Geschichte einer EL-AL-Maschine im Jahr 1955 recherchiert und ihr damit ein virtuelles Denkmal errichtet. Flug 415 wich versehentlich vom Kurs ab, verletzte dabei den bulgarischen Luftraum und wurde abgeschossen. Alle 58 Insassen kamen ums Leben.

LADINO Nur knapp 20 ältere Gemeindemitglieder können noch Ladino sprechen, das sogenannte Judenspanisch, die Muttersprache der Vorfahren der heutigen Gemeindemitglieder. Nachdem die Juden 1492 aus Spanien und Portugal vertrieben worden waren, fanden viele im Osmanischen Reich Zuflucht. Etliche ließen sich im heutigen Bulgarien nieder, das damals unter türkischer Herrschaft war.

Nur knapp 20 ältere Gemeindemitglieder können noch Ladino sprechen, das sogenannte Judenspanisch.

Aber nicht nur die Sprache schwindet, sondern auch die Zahl der Gemeindemitglieder. War die prächtige Hauptsynagoge in Sofia – sie ist das zweitgrößte sefardische Bethaus Europas – ursprünglich für 1300 Beter vorgesehen, kommen heute zu den Gottesdiensten höchstens noch 50 Personen.

»Wo sind die jüdischen Menschen geblieben?«, fragen viele Besucher aus dem Ausland. Denn im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern haben die bulgarischen Juden den Holocaust überlebt. Obwohl Bulgarien ein Verbündeter Nazideutschlands war, widersetzten sich Zar Boris III., viele Politiker, die orthodoxe Kirche und auch die Bevölkerung den deutschen Forderungen, die 51.300 Juden für die Deportation in die Vernichtungslager freizugeben. Zur Begründung hieß es, man wolle die »Lösung der Judenfrage« im eigenen Land vollziehen. Antisemitismus, hört man immer wieder, habe es in Bulgarien kaum gegeben.

schutz Doch gehört zur jüdischen Geschichte des Landes auch ein tragisches Detail: Die im annektierten Mazedonien und Thrakien lebenden Juden galten nicht als bulgarische Staatsbürger und standen deswegen unter keinem Schutz. Alle 11.343 wurden nach Treblinka verschleppt und ermordet. Bis heute sind sich Historiker über die Hintergründe nicht einig. Gab es keine Zeit, auch diese Menschen in Sicherheit zu bringen? Oder hat man sie etwa geopfert, um eine größere Gruppe zu retten?

Trotz ihrer Befreiung haben nach der Gründung des Staates Israel rund 90 Prozent der bulgarischen Juden Alija gemacht. »Ihre Leben wurden zwar verschont, aber auch in Bulgarien gab es zuvor unerbittliche antijüdische Gesetze. Sie träumten davon, in Eretz Israel als Juden frei zu leben«, sagt Julia Georgieva.

Die Regierung habe die Auswanderung sogar gefördert. Vielleicht habe man damit vorbeugen wollen, dass die zurückgelassenen Besitztümer eines Tages zurückgefordert werden. Heute schätzt man die Zahl der Juden im Land auf rund 5000, die meisten wohnen in der Hauptstadt.

STREIFENWAGEN »Antisemitismus? Wo gibt es den nicht?«, fragt Georgieva und deutet auf den Streifenwagen neben der Synagoge. Traurige Tatsache ist, dass sich der Hass meist gegen Roma richtet. Vielleicht werden Juden deswegen selten angefeindet.

Der Verband Schalom arbeite im Kampf gegen Judenfeindlichkeit und jede andere Art von Hass erfolgreich mit den Behörden zusammen, sagt Georgieva. So ließen sich in den vergangenen zwei Jahren die Aufmärsche rechtsextremer Nationalisten eindämmen, die den Nazigünstling General Lukow aus dem Zweiten Weltkrieg ehrten.

Vor einigen Wochen schmierten Unbekannte ein Hakenkreuz auf eine Wand der Synagoge und dazu die Zahl »1488«, die sich auf einen Neonazi-Spruch aus 14 Wörtern und »Heil Hitler« bezieht. Doch so etwas sei äußerst selten, sagt Julia Georgieva. Man fühle sich sicher im Land. »Die Bulgaren sind im Grunde nicht antisemitisch.«

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