Der Silvesterabend brachte in Ungarn diesmal nicht nur Sekt und Feuerwerk, sondern das Ende der Dritten Republik. So sieht es zumindest die Opposition. Nach propagandistischer Gleichsetzung von Res Publica und kommunistischer Volksrepublik durch die nationalkonservative Fidesz-Regierung wurden nun die Schraubenschlüssel hervorgeholt und die Schilder an den Grenzübergängen ausgetauscht: Der Reisende erreicht nun nicht mehr die »Ungarische Republik«, sondern betritt ganz volkstümlich das neue »Ungarn«.
Gleichzeitig trat am 1. Januar eine neue Verfassung in Kraft, die die Regierung ohne Beteiligung der Opposition kraft ihrer Zweidrittelmehrheit durchs Parlament brachte. Der auch international stark kritisierte Verfassungstext postuliert in seinem Grundsätze-Kapitel zwar weiterhin die Demokratie, die Republik, die Gewaltenteilung und die europäische Zusammenarbeit, die Gesetzgebung der Regierung deutet aber genau in die entgegengesetzte Richtung. Gleichzeitig beschneidet der Text die Kompetenzen des Verfassungsgerichts.
Entmachtung An 98 Sitzungstagen peitschte die Regierung von Premier Viktor Orbán 213 Gesetze durchs Parlament, gegen die hilflos protestierende Opposition und ohne gesellschaftliche Debatte. Mit einer simplen Änderung der Hausordnung kam zu Weihnachten praktisch die Entmachtung: Nun reicht für das Einbringen und sofortige Inkraftsetzen von Eilgesetzen die Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten, was genau der Regierungsmehrheit entspricht.
Der autoritären Herrschaft per Notverordnung und Ukas scheint damit Tür und Tor geöffnet. Die grüne LMP-Fraktion erklärte deshalb die parlamentarische Oppositionsarbeit für beendet, kettete sich am 23. Dezember an der Parlamentszufahrt an und verbrachte den entscheidenden Abstimmungstag im Polizeigewahrsam.
Kardinalgesetz Gesetz Nummer 100, ein sogenanntes Kardinalgesetz mit Verfassungsrang, ist das neue Religionsgesetz, verabschiedet am 28. Dezember. Nicht frei von Willkür beschränkt es die Zahl der anerkannten Religionsgemeinschaften von zuletzt etwa 300 auf 14. Alle nicht aufgeführten werden hinabgestuft zu Vereinigungen, sind von staatlicher Unterstützung ausgeschlossen, können aber das Parlament um nachträgliche Anerkennung ersuchen.
Außen vor bleiben beispielsweise Hindus, Muslime, Anglikaner und Methodisten, während die jüdische Gemeinschaft mit drei Gruppierungen dabei ist: den Neologen, den Orthodoxen und Chabad Lubawitsch. Was auf den ersten Blick günstig erscheint, sorgt für Kritik: »Chabad hat es in Ungarn nie gegeben. Erst seit der Wende wandern sie aus den USA ein. Sie sollen ein gutes Verhältnis zur Regierungspartei haben.
Die alteingesessenen Reformjuden dagegen wurden abgewiesen. Vergeblich verhandelte ihr Weltverband WUPJ mit Außenminister Martonyi«, beschreibt Gábor Mayer die Lage. Der 30-Jährige gehört zu den jungen, dynamischen Juden der Hauptstadt, sein Projekt ist die Wiederbelebung der kleinen orthodoxen Hinterhofsynagoge am Teleki-Platz.
Neologen Der Anwalt György Gádor, Vorsteher der Synagoge in der Páva-Straße, die zum Komplex des Holocaustmuseums gehört, geht noch einen Schritt weiter: »Die Regierung strebt die Zerschlagung des Monopols der MAZSIHISZ an.« Der »Verband der ungarischen jüdischen Glaubensgemeinschaften« entstand nach dem Systemwechsel von 1989 und vertritt die mit Abstand größte, traditionelle Gemeinschaft der Neologen, wie die unter Kaiser Franz Joseph assimilierten Juden genannt werden. Der Verband steht oft in der Kritik. Die Orthodoxen sind vor Jahren ausgeschert, und auch Fortschrittliche fühlen sich nur unzureichend vertreten.
Die vergleichsweise winzigen Gemeinschaften der Orthodoxen und Chabad Lubawitsch fühlen sich durch das Gesetz nun plötzlich aufgewertet und auf Augenhöhe mit den Neologen. Jetzt beginnt der Kampf ums Geld. »Die Regierung fordert von der MAZSIHISZ, 38 Prozent der ihr aus einem Staatsvertrag zustehenden Gelder den anderen abzugeben, was überhaupt nicht den Proportionen entspricht. Es würde dazu führen, dass eine Reihe jüdischer Einrichtungen schließen müsste«, präzisiert Gádor.
unpolitisch »Es geht Fidesz darum, die Gesellschaft zu zerschlagen, um jedes einheitliche Auftreten zu unterbinden«, sagt Mayer. Er zielt mit dieser Überspitzung auf all die anderen umstrittenen Gesetze des vergangenen Jahres, in denen es um Staatsdiener und Rentner geht, um Hochschüler und Gewerkschafter. Oder um die Medien. »Die kleinen jüdischen Blätter sind von dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Mediengesetz aber nicht betroffen«, stellt Gádor klar. »Sie sind unpolitisch, bewegen sich im religiösen Leben. Sie sind nicht im Fokus der Macht.«
»Die meisten Juden sehen sich als Linke oder Liberale«, ergänzt Mayer, »und fühlen sich als solche vom Mediengesetz bedroht.« Der Kampf um die Pressefreiheit geht weiter. Seit dem 10. Dezember läuft ein Hungerstreik vor dem Gebäude des Staatsfernsehens. Die inzwischen entlassenen Journalisten und Mediengewerkschafter fordern ein Ende der sich häufenden Nachrichtenmanipulationen