Rabbiner Evers fällt sprichwörtlich mit der Tür ins Haus: »Was hältst du von Bolkestein?«, fragt er einen Bekannten, noch bevor er sich an dessen Tisch im koscheren Sandwichladen Sal Meijer in Amsterdam-Süd niedergelassen hat. »Netter Mann«, kommt es verhalten zurück. »Nein, was hältst du von seinen Äußerungen?« Raphael Evers lässt nicht locker. Der Andere, ein bedächtiger älterer Herr, zögert kurz. Dann setzt er eine verschmitzte Mine auf: »Er versucht, glaube ich, der erste nichtjüdische Zionist der Niederlande zu werden.«
Die Szene, Teil einer Fernsehreportage des niederländischen protestantischen Rundfunks, ist bezeichnend. Das besagte Zitat des rechtsliberalen Politikers und früheren EU-Kommissars Frits Bolkestein war, zumal in jüdischen Kreisen, das Gesprächsthema der vergangenen Woche: »Bewusste Juden« – er meint orthodoxe – sollten sich klarmachen, dass es in den Niederlanden wegen des Antisemitismus der immer zahlreicher werdenden muslimischen Einwanderer keine Zukunft für sie gebe. Sie sollten ihren Kindern daher am besten raten, nach Israel oder in die USA auszuwandern. So steht es in dem jüngst erschienenen Buch Der Verfall. Juden in steuerlosen Niederlanden. Der israelische Wissenschaftler Manfred Gerstenfeld, aufgewachsen in Amsterdam, fasst darin zahlreiche Gespräche – unter anderem mit Bolkestein, Ayaan Hirsi Ali und Leon de Winter – über die künftige Situation niederländischer Juden zusammen und entwirft ein düsteres Szenario.
Ablehnung Bolkestein bestätigte der Tageszeitung De Pers seine Aussage – und stieß damit bei den Betroffenen auf wenig Zustimmung. »Ich bin dankbar für die Warnung, doch ich lehne das Konzept ab«, sagt Oberrabbiner Binyomin Jacobs, der für die Gemeinden außerhalb der niederländischen Großstädte zuständig ist. »Bolkestein ist pessimistisch, doch ich bin ein Optimist. Es ist eine gute Idee, wenn niederländische Juden nach Israel ziehen – aber nur, wenn das aus freiem Willen und nicht gezwungen geschieht.« Jacobs, wie Bolkestein einer der Gesprächspartner Gerstenfelds, räumt den zunehmenden Antisemitismus im Land ein, setzt dem aber die »warme und beeindruckende Unterstützung« der nichtjüdischen Niederländer entgegen.
Menno ten Brink, Rabbiner der Liberal Joods Gemeente (LJG) in Amsterdam, betont: »Wenn Juden nach Israel oder Amerika auswandern, bekommen Antisemiten ihren Willen. Wir sollten nicht das Handtuch werfen, sondern jede Form von Antisemitismus bekämpfen.« Rabbiner Raphael Evers stimmt ihm zu: »Ich bin eher ein Kämpfer als jemand, der wegläuft«, sagt er und fordert von Politik und Gesellschaft ein entschlossenes Vorgehen gegen Judenfeindlichkeit. In einer Stellungnahme der orthodoxen Nederlands Israëlitisch Kerkgenootschap (NIK) kündigt er an, die Wurzeln des Antisemitismus aufzudecken und zu sehen, »wie wir dem gemeinsam entgegentreten können«. Allerdings präzisiert Evers auch: »Durch Flucht löst man nichts. Aber es zeigt, wie weit es mit den Niederlanden gekommen ist. Wir sichern unsere eigenen Gebäude, weil der Staat das nicht tut.«
Entrüstung Dass in der Situation die Politik gefragt ist, finden auch Abgeordnete aller Parteien. »Bedrohte Menschen müssen im eigenen Land beschützt werden«, so Femke Halsema, Fraktionsvorsitzende von GroenLinks. Auf Bolkesteins Vorschlag reagierte sie entrüstet. Sie vermutet, der VVD-Politiker sei »verrückt« geworden.
Der Chef der rechtspopulistischen Freiheitspartei, Geert Wilders, der seine Laufbahn einst unter Bolkestein als VVD-Fraktionsmitarbeiter begann, forderte stattdessen: »Nicht die ›bewussten‹ Juden müssen emigrieren, sondern die Marokkaner, die sich des Antisemitismus schuldig machen.«
Das Informations- und Dokumentationszentrum Israel (CIDI) versucht zu erklären: »Bolkesteins Stellungnahme wird von manchen so ausgelegt, als sähe er die Juden lieber emigrieren. Das war nicht seine Absicht«, heißt es in einem Kommentar. »Bolkestein will die Niederlande und Europa wachrütteln, dass das europäische Judentum auf dem letzten Bein läuft.« der Politiker ist in den Niederlanden seit den 90er-Jahren als einer der ersten Kritiker der multikulturellen Gesellschaft bekannt. Bereits im 2008 vom CIDI herausgegebenen Buch Israël en ik (»Israel und ich«), erklärte er: »Israel ist zusammen mit den USA das einzige Land, in dem Juden auf lange Sicht sicher sein werden.«
Zuspruch Ungeteilten Zuspruch löst der Politiker bei etlichen jungen Juden aus. Beinahe täglich, berichtet einer der Söhne von Rabbiner Evers in einer Fernsehreportage, werde er auf der Straße beschimpft und bedroht, häufig auch bespuckt. Seine Kippa müsse er unter einer Baseballkappe verstecken. »Das finde ich als orthodoxer Jude keine Art zu leben.« Sein Beschluss steht daher fest: Sobald er mit seinem Studium fertig ist, will er die Niederlande Land verlassen. So wie »50, 60 Prozent« seiner Amsterdamer jüdischen Altersgenossen, die diesen Schritt bereits gegangen seien.