Es war ein besonders bizarrer Moment in einem an bizarren Momenten nicht armen Wahlkampfjahr in den USA. Bei der Fernsehdebatte zwischen dem Republikaner David Perdue und seinem demokratischen Herausforderer Jon Ossoff vor der Stichwahl um einen der zwei Senatssitze des Bundesstaates Georgia blieb Anfang des Monats Perdues Podium leer.
Der Grund: Ossoff hatte den Amtsinhaber in zwei vorherigen Debatten so eloquent niedergeredet, dass Perdue sich seither weigert, mit Ossoff zu diskutieren. Perdues Abwesenheit demonstriere eine »atemberaubende Arroganz und ein bemerkenswertes Anspruchsdenken«, sagte Ossoff, der die Fernsehbühne für sich allein hatte.
Hotspot Georgia ist zum politischen Hotspot geworden. Nicht nur stimmte der eigentlich stramm republikanische Südstaat bei den Präsidentschaftswahlen für einen Demokraten – zum ersten Mal seit 28 Jahren. In Georgia wird sich auch entscheiden, wie effektiv der künftige Präsident Joe Biden regieren kann.
In Georgia wird sich entscheiden, wie Joe Biden regieren kann.
Gelingt es Ossoff und dem zweiten demokratischen Herausforderer, dem afroamerikanischen Pastor Raphael Warnock, bei der Stichwahl am 5. Januar die beiden republikanischen Amtsinhaber Perdue und Kelly Loeffler zu schlagen, übernehmen die Demokraten die Kontrolle im Senat. Wenn nicht, drohen Bidens Regierung für die nächsten Jahre Stillstand und Blockade.
Die beiden demokratischen Kandidaten sind keine Unbekannten in Georgia. Warnock ist leitender Pastor der Ebenezer Baptist Church, jener Kirche, in der Bürgerrechtsführer Martin Luther King Jr. einst predigte und die zur Zentrale der Bürgerrechtsbewegung wurde.
Jon Ossoff, 33, wurde 2017 mit einem Schlag – und weit über Georgia hinaus – bekannt, als er bei einer Nachwahl zum Repräsentantenhaus für einen traditionell konservativen Distrikt in einem Vorort von Atlanta antrat, Wahlkampfspenden von mehr als 8,3 Millionen Dollar im ganzen Land einsammelte (eine Rekordsumme für einen Kongresswahlkampf), eine Armee von hochmotivierten Graswurzelaktivisten rekrutierte – und mit respektablen 48 Prozent verlor.
Ossoffs Urgroßeltern waren jüdische Einwander, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Russland und Litauen in die USA kamen. Seine Mutter ist Australierin. Ossoff wurde in Atlanta geboren, ging dort auf eine Privatschule, studierte Politikwissenschaft an der renommierten Georgetown University in Washington und an der London School of Economics.
Noch in der Schulzeit machte er ein Praktikum bei dem kürzlich verstorbenen Kongressabgeordneten John Lewis, einem Weggefährten von Martin Luther King, arbeitete später im Büro des demokratischen Abgeordneten Hank Johnson in Washington und gründete eine Medienproduktionsfirma, die für internationale Fernsehsender wie die BBC und Al-Jazeera investigative Dokumentarfilme über Korruption, Betrug und Menschenhandel produzierte.
Seine Karriere und Identität als Journalist ist nichts, was Ossoff selbst stark herausstellt – oder was in seinem Wahlkampf eine größere Rolle spielt. Der Journalismus sei für Ossoff immer eher Mittel zum Zweck gewesen, sagt Karin Assmann, Medienprofessorin an der University of Georgia in Athens, »eine interessante Episode auf seinem Weg in die Politik«.
Identität Auch sein Judentum thematisiert Ossoff im Wahlkampf selten. Der Grad, wie er es praktiziere, habe sich in den verschiedenen Phasen seines Lebens verändert, sagte er dem Magazin »Moment«. »Aber die Verbindung zu meinem jüdischen Erbe als Teil meiner Identität ist stark und konstant.« Dazu gehört, dass er Mazzeknödelsuppe liebt – »auch bei 35 Grad im Schatten«.
Ossoffs jüdische Frau Alicia Kramer, die als Gynäkologin am Emory-Universitätskrankenhaus in Atlanta arbeitet, tritt häufig in den aktuellen Wahlkampfspots ihres Mannes auf – vor allem in denen zur Corona-Pandemie.
Seine Famlie gehört der ältesten jüdischen Gemeinde in Atlanta, der Reformsynagoge The Temple, an. Die Gemeinde engagierte sich in den 50er- und 60er-Jahren stark in der Bürgerrechtsbewegung. 1958 zündeten weiße Rassisten eine Bombe, die Zerstörung war groß, aber es gab keine Opfer. Bis heute arbeitet der Oberrabbiner des Temple eng und freundschaftlich mit dem leitenden Pastor der Ebenezer Baptist Church zusammen – Ossoffs politischem Mitstreiter beim Kampf um die Kontrolle im Senat.
So sprang Ossoff Warnock auch zur Seite, als dessen republikanische Gegnerin ihm vorwarf, israelfeindlich zu sein, und eine Predigt aus dem Jahr 2018 anführte, in der Warnock die Lebensverhältnisse in zahlreichen palästinensischen Gemeinden in Israel kritisiert und eine Zweistaatenlösung gefordert hatte. Warnock sei ein »enger Freund der jüdischen Gemeinschaft in Georgia und ein Verbündeter Israels«, sagte Ossoff.
J Street Ossoff hat sich bislang selten außenpolitisch geäußert. Er sprach sich für fortgesetzte amerikanische Finanzhilfe an Israel aus und unterstützt die linke, pro-israelische Lobbygruppe J-Street, die wiederum Zehntausende Dollar für Ossoffs Wahlkämpfe spendete.
Ossoff mahnt Juden, wachsam zu sein und notfalls zurückzuschlagen.
Immer wieder warnt Ossoff vor dem zunehmenden Antisemitismus. Verstörend sei nicht nur die neue Welle judenfeindlicher Attacken, sagte er, »sondern das Zaudern einiger politischer Führer, diese zur Kenntnis zu nehmen und zu verurteilen«.
Im jüngsten Wahlkampf wurde Ossoff selbst zur Zielscheibe antisemitischer Propaganda. Ende Juli veröffentlichte das Wahlkampfteam von David Perdue eine Anzeige auf Facebook. Darauf waren unter der Schlagzeile »Die Demokraten wollen Georgia kaufen« ein Bild des – ebenfalls jüdischen – demokratischen Mehrheitsführers im Repräsentantenhaus, Chuck Schumer, zu sehen sowie ein Foto von Jon Ossoff – mit einer digital verlängerten Nase.
Ein bedauerlicher technischer Fehler der externen Werbeagentur, erklärte Perdues Wahlkampfteam. Dov Wilker, Regionalleiter der jüdischen Lobbyorganisation American Jewish Committee (AJC) in Atlanta, sagte, die Anzeige rufe die ältesten klassischen antisemitischen Stereotype wach, »die am besten im Mülleimer der Geschichte aufgehoben sind«.
Fernsehdebatte Der ansteigende Antisemitismus sei eine Mahnung an alle Juden, wachsam zu sein und, wenn nötig, zurückzuschlagen, sagte Ossoff im Interview mit »Moment«. Letzteres tat er in seiner zweiten Fernsehdebatte gegen Perdue am 28. Oktober. »Zuerst haben Sie meine Nase verlängert, um jeden daran zu erinnern, dass ich Jude bin«, sagte Ossoff. Als das keine Wirkung zeigte, »haben Sie mich als eine Art islamistischen Terroristen dargestellt. Und als auch das nicht funktionierte, bezeichneten Sie mich als einen chinesischen Kommunisten«. Perdue hatte dem wenig entgegenzusetzen.
Kein Wunder also, dass bei der TV-Debatte zum Showdown in Georgia der Platz hinter Perdues Podium leer blieb. Ob Ossoffs medialer Sieg sich allerdings auch in einen politischen übersetzt, ist unklar. Aktuelle Umfragen sehen Ossoff um einen Prozentpunkt vor Perdue.