In den Umfragen hatte sich der Rechtsruck in Ungarn bereits angedeutet, nun ist er Gewissheit. Die 2004 gegründete rechtsextreme Partei Jobbik erreichte in der ersten Runde der ungarischen Parlamentswahlen 16,7 Prozent der Stimmen und wird künftig eine Parlamentsfraktion stellen. »Das ungarische Judentum akzeptiert die demokratische Entscheidung«, sagte Péter Feldmájer, Vorsitzender des Verbands jüdischer Gemeinden in Ungarn (Mazsihisz), in einer Stellungnahme. Es sei bedauerlich und schmerzhaft, dass die faschistische Partei Jobbik mit so vielen Stimmen ins Parlament einzieht.
Der rechts-konservative Bund Junger Demokraten (Fidesz) erreichte mit knapp 53 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit und zeigt damit erst die Dimension des politischen Rechtsrucks. Fidesz-Chef Viktor Orbán, der zum zweiten Mal Premier wird, kann im zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag sogar noch auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit hoffen. Mit dieser Machtfülle ausgestattet, wäre er sogar in der Lage, die Verfassung zu ändern. Orbán kokettierte in den vergangenen Jahren immer wieder mit der rechtsradikalen Jobbik, von der er sich nun aufgrund der Mehrheitsverhältnisse distanzieren kann.
Korruption Jobbik, übersetzt die Besseren oder die Rechteren, hat es geschafft, von den politischen Fehlentwicklungen der vergangenen acht Jahre zu profitieren. »Es waren auch die Fehler der sozialliberalen Koalition, die zu diesem Wahlergebnis geführt haben«, glaubt Attila Novák, Historiker und Redakteur der jüdischen Wochenzeitung Szombat. Zahlreiche Korruptionsaffären, hohe Steuern und ein wegen der wirtschaftlichen Krise notwendiger Sparkurs förderten den Protest der Wähler gegenüber den regierenden Sozialisten (MSZP), die mehr als die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren.
Die Rezession, eine hohe Arbeitslosenquote und soziale Unsicherheit, besonders im strukturschwachen Nordosten Ungarns, haben viele junge Menschen anfällig gemacht für Jobbiks Hass- und Sündenbock-Rhetorik gegen die Minderheit der Roma, die rund 80.000 Juden im Land und gegen Homosexuelle.
In einigen ländlichen Regionen hat Jobbik die Sozialisten in der Wählergunst sogar überholt. So erzielte die Partei des erst 31-jährigen Vorsitzenden Gábor Vona nach den Europawahlen im vergangenen Jahr erneut ein beachtliches Ergebnis. Auch die Gründung der sogenannten Ungarischen Garde hat Vonas Partei zu verantworten. Die rechtsradikale Bewegung, die in ihrem Auftritt an die faschistischen Pfeilkreuzler im Zweiten Weltkrieg erinnert, ist trotz Verbots noch mit Aufmärschen aktiv.
Schoa Besonders für die Generation der Holocaust-Überlebenden ist Jobbiks Wahlerfolg schwer zu verkraften. Mehr als 500.000 ungarische Juden wurden in der Schoa ermordet. Erno Lazarovics, Überlebender des Konzentrationslagers Mauthausen und heute bei der Mazsihisz für Auswärtige Angelegenheiten zuständig, reagiert mit Unverständnis auf das Wahlergebnis: »Gerade ein EU-Land darf solche ultrarechten Strömungen nicht zulassen. Diese Entwicklungen sind sehr besorgniserregend.« Nach Meinung Lazarovics’ muss sich das Land gegen die undemokratischen Kräfte zur Wehr setzen: »Es ist die Pflicht demokratisch gewählter Regierungen, dafür zu sorgen, dass sich Faschismus und Nationalsozialismus nicht wiederholen. Ungarn muss unbedingt den Weg der Demokratie weitergehen.«
Umweltschutz Neu im politischen Spektrum ist die LMP (»Politik kann anders sein«). Die Partei schaffte es mit mehr als sieben Prozent auf Anhieb ins Parlament. Erst im vergangenen Jahr gegründet, hat sie sich dem Umweltschutz, wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit sowie dem Kampf gegen die Korruption verschrieben und möchte damit vor allem die stark polarisierte politische Kultur des Landes überwinden.
Die rassistischen und judenfeindlichen Strömungen, die sich in Ungarn mit Jobbik nun auch im Parlament manifestieren, kritisiert die LMP scharf: »Antisemitismus muss überall verfolgt werden«, sagt Gergely Kispál, LMP-Abgeordneter eines Budapester Bezirks. Die Haltung der LMP zu Israel beschränkt sich dagegen eher allgemein auf eine Verurteilung der Gewalt in der Region und die Hoffnung auf eine Lösung des Nahost-Konflikts. »Wir teilen die israelkritische Position westlicher linker Parteien nicht, weil wir aus einem ganz anderen Umfeld stammen«, sagt Kispál.
Als eher reserviert bezeichnet Kispál allerdings das Verhältnis seiner Partei zu jüdischen Institutionen in Ungarn, wie Mazsihisz oder auch Chabad. »Kirche und Staat müssen klar getrennt werden. Offizielle jüdische Organisation haben uns noch nicht angesprochen.« Ohnehin steht die LMP dem jungen jüdischen Budapester Milieu, das sich von den offiziellen Institutionen eher distanziert, deutlich näher. Viele junge Juden sehen in der neuen Partei eine echte Alternative zum politischen Establischment. Die LMP könnte ihr Ergebnis im zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag mit dem Gewinn weiterer Mandate sogar noch verbessern.
Machtzuwachs Dann nämlich treten alle Wahlkreiskandidaten noch einmal an, die nicht die absolute Mehrheit, aber mindestens 15 Prozent der Stimmen errungen haben. Dabei zielt die fremdenfeindliche Jobbik besonders auf die Wähler, die einen weiteren Machtzuwachs des Fidesz verhindern wollen, zugleich aber nie links wählen würden. LMP-Kandidat Kispál ist zuversichtlich, dass sich das Problem Jobbik von selbst erledigt, wenn das Land gut regiert wird. »Jobbik weiß eigentlich gar nicht, wie Parlamentsarbeit funktioniert, und irgendwelche rechtsradikalen Sprüche reichen jetzt nicht mehr.«
Auch andere politische Beobachter betrachten die Präsenz von Jobbik im Parlament eher nüchtern. So schließt Historiker Novák einen jüdischen Exodus aus Ungarn aus: »Die meisten Juden in Ungarn haben auch jetzt keinen Drang, das Land zu verlassen. Gerade die ältere Generation kann es auch gar nicht.« Der Schoa-Überlebende Lazarovics geht sogar noch einen Schritt weiter: »Jemand, der in diesem Land geboren und ungarischer Staatsbürger ist, hat genauso wie andere Mitbürger die Verpflichtung, hierzulande zu einem demokratischen Ungarn beizutragen.« Und das wird auch nötig sein. Denn spätestens im Januar 2011 schaut ganz Europa auf Ungarn, wenn das Land für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.