Ungarn

Jeder ist willkommen

Die Gemeinden helfen den Kriegsflüchtlingen aus dem Nachbarland, egal ob sie jüdisch sind oder nicht

von György Polgár  22.03.2022 10:34 Uhr

»Schalom, wir können helfen«: jüdischer Infopoint an einem der Budapester Bahnhöfe Foto: Gyorgy Polgar

Die Gemeinden helfen den Kriegsflüchtlingen aus dem Nachbarland, egal ob sie jüdisch sind oder nicht

von György Polgár  22.03.2022 10:34 Uhr

»Die Tora lehrt uns, Bedürftigen zu helfen. Genau das befolgen wir«, sagt András Heisler, der Vorsitzende des Verbands der Ungarischen Jüdischen Gemeinden (Ma­zsihisz). Zwar seien in erster Linie Juden die Zielgruppe, aber selbstverständlich sei jeder willkommen, der aus der Ukraine kommt. Denn das Wichtigste ist, dass allen geholfen wird.

Schon wenige Stunden nach Kriegsbeginn wurde klar, dass sich eine Krise anbahnt. Denn die ukrainischen Teilnehmer einer russisch-ukrainisch-jüdischen Jugendgruppe konnten plötzlich nicht mehr nach Hause fliegen. Schnelles Handeln war angesagt. Als Erstes musste man in der Ukraine bekannt geben, dass Budapest bereit ist, die Teilnehmer aufzunehmen.

hotline In Transkarpatien, der ukrainischen Region hinter der Grenze, wo etwa zwölf Prozent der Bevölkerung Ungarisch sprechen, ist Ma­zsihisz gut bekannt, im Landesinneren jedoch nicht. Dort wurden durch persönliche Kontakte sowie über internationale jüdische Organisationen entsprechende Informationen verbreitet. Schon am zweiten Kriegstag wurde eine Hotline eingerichtet, in der Freiwillige auf Ukrainisch, Russisch und Ungarisch den Flüchtenden zur Seite stehen.

Anfangs war alles chaotisch, inzwischen läuft es fast reibungslos. Mehrere Zivilorganisationen haben sich zur Plattform »Jews for Ukraine« zusammengeschlossen und betreiben Infopoints an den Grenzübergängen sowie an den Budapester Bahnhöfen. Sie sammeln Sachspenden, organisieren Unterkünfte oder den Transport.

In den ersten zwei Tagen standen die Menschen noch unter Schock, erst etwa ab dem dritten Tag waren sie in der Lage, über ihre Pläne zu reden. Einige wollen Alija machen, viele in den Westen weiterreisen, andere beabsichtigen, in Grenznähe auszuharren, um von dort nach dem Krieg in die Heimat zurückzukehren.

kontakt Mazsihisz kümmert sich in der ersten Woche um die Menschen, danach übernimmt entweder planmäßig der Staat oder – bei denen, die nach Israel ausreisen wollen – die Jewish Agency. »Natürlich bleiben wir weiterhin in Kontakt, sagt Mazsihisz-Chef András Heisler. »Wir besorgen koscheres Essen oder bieten Gebetsmöglichkeiten an.«

Heute sei es eine Krisensituation, die es unverzüglich zu bewältigten gilt, »doch sehr bald wird sie uns vor ein soziales Problem stellen, das wir zu lösen haben«, fährt er fort. »Die Kranken und Alten müssen gepflegt werden, die Kinder benötigen Unterricht, die Erwachsenen müssen beschäftigt werden. Niemand weiß, wie lange die Geflüchteten hier bleiben müssen, und ob sie je zurückkehren werden können.«

Ohne die finanzielle Unterstützung durch das American Joint Distribution Committee, den Jüdischen Weltkongress und die Jewish Agency könnte Ma­zsihisz die Kosten nicht stemmen.

Wie viele sich an den Mazsihisz gewendet haben, ist schwer zu sagen. In den vergangenen Tagen hat sich ihre Zahl vervielfacht. Die meisten sind nicht-observante Juden. Die Orthodoxen wenden sich eher an die Chabad-nahe Vereinigte Ungarische Jüdische Glaubensgemeinschaft.

Ohne die finanzielle Unterstützung durch das American Joint Distribution Committee, den Jüdischen Weltkongress und die Jewish Agency könnte Ma­zsihisz die Kosten nicht stemmen. Doch die Flüchtlingshilfe darf wegen Geldmangels nicht scheitern, darin sind sich alle einig.

Auch eine kleine lokale Spendenaktion wurde gestartet, mit dem Ziel, rund 6500 Euro zu sammeln. »Diese Mikrospende mag nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, dennoch betrachten wir sie als Erfolg«, unterstreicht András Heisler. 40 Jahre Kommunismus hätten die uralte Tradition der Spendenbereitschaft ausgelöscht, und sie gewinne nur sehr langsam wieder an Boden.

FREIWILLIGE An Sachspenden fehlt es allerdings nicht, und private Initiativen gibt es auch. So hat der Vorsitzende der Öffentlichen Stiftung des Ungarischen Jüdischen Erbes, György Szabó, sich mit einigen Freunden ins Auto gesetzt, um an die Grenze zu fahren. »Oft ist das ganze Leben einer mehrköpfigen Familie in einen kleinen Koffer eingepackt«, zitiert ihn das Online-Magazin »Kibic«.

Auch außerhalb von Gemeinde und Organisationen trifft man auf jüdische Helfer wie Sára Horváth, eine junge Volontärin, die in der Budapester Stadtverwaltung Sachspenden sortiert. Sie zieht eine Parallele: »Während der Schoa haben manche Menschen Juden gerettet und sich damit in Lebensgefahr gebracht! Was ich hier mache, ist nichts dagegen!«

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