Er war einer der Letzten aus einem sehr exklusiven Klub. Mit Walter Laqueur ist am 30. September im Alter von 97 Jahren in Washington nicht nur ein brillanter Analytiker der Gegenwart und Vergangenheit gestorben, sondern ein jüdischer Intellektueller, wie ihn vielleicht nur die Stadt Breslau hervorbringen konnte.
Die schlesische Industrie- und Kulturmetropole war vor dem Zweiten Weltkrieg Deutschlands drittgrößte Stadt sowie Heimat von rund 25.000 Juden. Der Historiker Fritz Stern stammte ebenfalls von dort wie auch der Politikwissenschaftler Guenter Lewy oder die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch.
1938 gelang Laqueur kurz vor der Reichspogromnacht die Flucht nach Palästina. Doch seine Eltern und viele Verwandte wurden von den Nazis ermordet. Ein »Überlebender durch Glück«, so beschrieb sich Laqueur einmal selbst.
Kibbuz In Palästina angekommen, schloss er sich der Kibbuzbewegung an, lernte Hebräisch, überraschenderweise auch Russisch, und begann zu schreiben. Erste journalistische Gehversuche machte er bereits während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948. Irgendwann allerdings wurde es ihm in den Kollektivsiedlungen zu eng. »Auf diese Weise wollte ich nicht den Rest meiner Tage verbringen.«
Das musste Laqueur auch nicht. Im Alter von Mitte 30 siedelte er mit seiner Familie nach London über und gründete dort gemeinsam mit George Mosse das »Journal of Contemporary History«. Wichtige Stationen seiner Karriere waren unter anderem die Wiener Library in Großbritannien sowie die Brandeis University und die Georgetown University in den Vereinigten Staaten und natürlich das Center for Strategic and International Studies, eine renommierte Denkfabrik in Washington.
Sukzessive machte er sich einen Namen, zuerst als Experte für die Geschichte Europas und des Zionismus, dann folgten seine viel beachteten Veröffentlichungen zur Sowjetunion und zum Terrorismus und dessen Ursachen.
Europa »Ich wurde ein Historiker der Nachkriegszeit in Europa, aber das Europa, wie ich es kannte, gibt es nicht mehr«, sagte er 2013 dem Nachrichtenmagazin »Spiegel« in einem Interview. »Mein Buch Europa aus der Asche erschien 1970, und es endet mit einer optimistischen Einschätzung der Zukunft. Später, 2008, folgte Die letzten Tage von Europa. Mit meinem jüngsten Werk Europa nach dem Fall habe ich noch einmal nachgelegt. Die Reihenfolge der Titel sagt eigentlich schon alles.«
Dabei hat sich Laqueur in seiner Deutung der Krisen der Gegenwart nie als eine Kassandra-Stimme verstanden. Vielmehr – und das bestätigt seine luzide wie auch nüchterne Sprache – sah er sich als skeptischen Aufklärer. Mehr als 70 Bücher hat er im Laufe seines langen Lebens geschrieben oder mit herausgegeben. Aber auch als Publizist machte er sich einen Namen.
Geradezu prophetisch waren Laqueurs Einschätzungen über die Entwicklung Russlands nach dem Ende der Sowjetunion. Als alle Welt euphorisch vom »Ende der Geschichte« sprach, schrieb er Der Schoß ist fruchtbar noch. Der militante Nationalismus der russischen Rechten. Darin setzte er sich mit den geistesgeschichtlichen Wurzeln der postsowjetischen Neuen Rechten auseinander und verwies unter anderem auf deren Antisemitismus als integrative Klammer und Motivationsfaktor.
aussenpolitik Bereits in den 70er-Jahren begann Laqueur, sich mit dem Terrorismus auseinanderzusetzen. Er wandte sich schon damals gegen die vorherrschenden Deutungsmuster, dass es sich dabei um ein Phänomen handelte, das allein mit sozialen Ungerechtigkeiten oder einer verfehlten Außenpolitik zu tun habe.
Eine solche Komplexitätsreduzierung könne nur fatale Folgen haben, warnte er und forderte immer wieder, die ideologischen Wurzeln des politischen Islam in die Analysen mit einzubeziehen. Wer Terrorismusexperte sein will, müsse sich mit dem Nahen Osten und den Religionen vor Ort auseinandersetzen – anderenfalls würden alle Erklärungen ins Leere laufen.
Angesichts der vielen Problemfelder unserer Zeit wird man Walter Laqueurs unkonventionelle, aber unaufgeregte Kommentare sehr vermissen.