Der 19. März 2012 war für die Familie des Anwalts Erick Lebahr ein Tag wie jeder andere. Erick wollte seine jüngste Tochter Sophia zur Schule fahren, zum jüdischen Ozar-Torah-Gymnasium in Toulouse. »An diesem Tag hat sie sich länger im Spiegel angeschaut als sonst«, erinnert sich Erick. Minuten, die ihm und seiner Tochter vielleicht das Leben gerettet haben.
gotteskrieger Während sich Familie Lebahr auf den Schulweg vorbereitet, steigt an jenem 19. März der 23-jährige Mohamed Merah auf seine Vespa – um zu töten. Wie das geht, haben dem Sohn algerischer Einwanderer Gotteskrieger in Pakistan beigebracht. Kurz bevor Erick und Sophia Lebahr am Gymnasium eintreffen, erschießt er den Hebräischlehrer Rabbiner Yonatan Sandler (30), dessen Söhne Aryeh (6) und Gavriel (3) sowie Myriam Monsonego, die acht Jahre alte Tochter des Schuldirektors.
»Ich bin genau eine Minute danach angekommen und habe die Leichen gesehen«, erzählt Erick Lebahr. Die kleine Myriam war die Tochter eines guten Freundes. Zu Hause spricht Sophia ein Gebet und fragt ihren Vater: »Können wir bitte nie wieder darüber sprechen?« Sie besteht darauf, weiter ihr Gymnasium zu besuchen, auch wenn ihrem Vater der Schulweg schwerfällt.
Auch heute noch hat Erick Lebahr Mühe, das Grauen zu schildern. Er sitzt bei einem Kaffee auf dem Toulouser Hauptplatz Capitole, und die Tränen laufen unter seiner Sonnenbrille hinab. Es sei absurd, sagt er. Erick kannte Merah; er hatte ihn 2010 als Mandant in seiner Kanzlei für Arbeitsrecht empfangen: »Ich war ungewöhnlich nett zu ihm gewesen, dachte, ich müsse ihm helfen, weil er aus dem Gefängnis kommt.«
gedenken Am Montag vergangener Woche, elf Monate nach Merahs Attentat, hält die jüdische Gemeinde in Toulouse die Askara (Jahrzeit) für Yonatan, Gavriel, Aryeh und Myriam in der Synagoge »Hékhal David et Téfila Le Moshé« ab. Zu der Zeremonie, die das Ende der religiösen Trauer einläutet, sind der sefardische Oberrabbiner von Israel, Shlomo Amar, und Frankreichs Oberrabbiner Gilles Bernheim nach Toulouse gekommen.
Erick Lebahr hat aus diesem Anlass sein Buch Toulouse oder Die ermordete Unschuld veröffentlicht. Auf einer Seite lacht dem Leser Myriam Monsonego entgegen, ein Mädchen mit blonden Haaren, das, wie er schreibt, »Eis und bunte Kleider liebte«. »Das Buch ist meine Therapie«, sagt Lebahr.
Vor dem jüdischen Zentrum wachen an diesem Abend zwei Polizeiautos, die Eingangskontrolle ist streng. Seit Merah ist das Alltag in Toulouse und auch in anderen jüdischen Gemeinden Frankreichs. Jüngste Statistiken belegen, dass der Antisemitismus stark zunimmt und Merahs Morde die Situation noch verschlimmert haben.
Statistik Wie der Sicherheitsdienst der jüdischen Gemeinde (SPCJ) letzte Woche berichtete, ist die Zahl der antisemitischen Taten im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2011 um 58 Prozent gestiegen. Die Zahl der körperlichen Angriffe stieg von 57 auf 96. Unmittelbar nach dem Terroranschlag von Toulouse verzeichnete der SPCJ eine regelrechte Welle antisemitischer Vorfälle: 90 innerhalb von nur zehn Tagen. Vor Kurzem erklärte Frankreichs Innenminister Manuel Valls, in den Vorstädten lauerten noch mehr potenzielle Merahs.
Die jüdische Gemeinde in Toulouse schottet sich derzeit ein wenig ab, sie sucht Ruhe und etwas Normalität. Yaacov Monsonego, der Vater von Myriam, wird den 19. März nicht in Toulouse, sondern in Israel verbringen. Man hat genug von den ewigen Fragen der Journalisten, die Gemeinde will die Angehörigen schützen.
»In Toulouse hat das Böse das Schöne zerstört. Aber wir werden unsere Tränen trocknen müssen«, appelliert Oberrabbiner Bernheim an die Gemeindemitglieder, von denen Hunderte zur Zeremonie gekommen sind. Jedoch weiß auch er: »Es gibt die Zeit vor Toulouse und die danach, Toulouse ist zum Synonym für den Terror geworden, ein Fluch für eine Stadt.« Der Antisemitismus ginge zwar von einer Minderheit aus, doch müssten sich die Nichtjuden dazu äußern. Offenbar meint Bernheim damit die friedlichen Teile der muslimischen Gemeinde.
Ein Jahr nach den Vorfällen herrscht in der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs keine Panik, aber viele Juden sind wachsam. Erick Lebahr zum Beispiel empfiehlt seinem Sohn, seinen Davidstern nicht offen zu tragen. Und auf Bitten der Eltern haben die jüdischen Schulen die Sicherheitsvorkehrungen stark erhöht.
Sicherheit Die Vor- und Grundschule »Gan Rachi«, die alle drei getöteten Kinder besuchten, hat zwei Sicherheitskräfte eingestellt, die ständig den Eingangsbereich überwachen und den Schulleiter per Funk über jede Auffälligkeit informieren. Zudem hat die Schule ein neues Video-Überwachungssystem installieren lassen.
»Die Eltern wünschen sich maximale Sicherheit und leisten seit diesem Jahr auch eine Abgabe dafür, aber die Schule darf nicht zum Gefängnis werden«, erklärt Rabbiner Youssef Matussof, der Direktor von »Gan Rachi«. Er freut sich darüber, dass keine Familie ihre Kinder aus Sicherheitsgründen abgemeldet hat. Rabbiner Matussof wünscht sich eine starke und vereinte Gemeinde, die dem Antisemitismus trotzt.
Wer heute durch die »Gan Rachi«-Schule geht, der erlebt einen Ort voller Leben – so, als habe es den 19. März 2012 nie gegeben. In einem Klassenzimmer sitzen die Kinder, die Jungen tragen Kippa, einer liest aus der Tora vor. Aus einem anderen Raum erklingt hebräischer Gesang. Plötzlich bleibt Matussof vor einer Tür stehen und blickt nachdenklich auf ein Foto mit lachenden Kindergesichtern: »In diese Klasse wäre Gabriel Sandler jetzt gegangen«. Dann erzählt er eine Anekdote, die ihm besonders gefällt: In diesem Jahr ist ein anderer Gavriel in die Klasse gekommen. Ein Mitschüler des ermordeten Kindes habe gesagt: »Gott hat uns den einen Gavriel genommen und uns dafür einen anderen geschickt.«