Pro & Contra

Ist der Brexit gut für Juden?

Tausende protestierten Ende August in London gegen die Entscheidung von Premierminister Boris Johnson, das Parlament zu suspendieren, um einen »No Deal Brexit« zu ermöglichen. Foto: dpa

PRO – Lance Forman: Von einem liberalen Europa ohne gemeinsame Währung profitieren alle

Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit in der jüdischen Gemeinschaft meines Landes für den Verbleib von Großbritannien in der EU ist. Viele Juden haben Angst vor Veränderung und übernehmen die Lesart der Medien, der bevorstehende Brexit habe zu einem Anstieg des Extremismus geführt. Viele glauben auch, dass der Brexit Juden wieder zum Sündenbock mache und den Antisemitismus zurückbringe. Sie sind lieber zufrieden mit dem Status quo und einem Platz, an dem sie im Großen und Ganzen relativ komfortabel leben.

Ich sehe das anders, und ich nehme die Bedrohung durch den Antisemitismus nicht auf die leichte Schulter. Mein Vater ist Holocaust-Überlebender und hat Kinder über die Schrecken des Rassismus, Nazismus und Faschismus unterrichtet. Ich selbst unterstütze den Community Security Trust (CST) unserer jüdischen Gemeinden und habe mich persönlich um die Sicherheit in meinem eigenen Gotteshaus gekümmert.

Obwohl ich mehr als 35 Jahre der konservativen Tory-Partei angehörte, bin ich unlängst zur Brexit-Partei gewechselt und vertrete sie jetzt als Abgeordneter im Europäischen Parlament. Die »Einladung« der früheren Premierministerin Theresa May an Labour-Führer Jeremy Corbyn, sich in der Downing Street Nr. 10 niederzulassen, empfand ich als aberwitzig. Ich bin der Meinung, dass die EU der Grund von Spannungen in Europa ist, die es dem Antisemitismus erlauben, wieder sein hässliches Haupt zu erheben. Und der Grund dafür liegt in der Wirtschaft.

 

»Juden fühlen sich bedroht, wenn die Demokratie bedroht ist. Die Gefahr ist aber nicht der Brexit, sondern das Desaster der EU wegen des Euro.« Lance Forman

Ich war immer der Überzeugung, dass Wirtschaft mehr Einfluss hat als Politik. Der Kommunismus in der Sowjetunion ist nicht zusammengebrochen, weil die Philosophie unrealistisch war, sondern weil immer mehr Menschen auf der Straße um Brot anstanden. Die EU hat ein fundamentales Problem, und es beruht auf der Einführung der Einheitswährung. Seit dem Start des Euro war ich der Meinung, dass dieser die Kraft hat, Europa zu zerstören.

Seitdem habe ich Jahr für Jahr beobachtet, wie diese traurige Geschichte weiterging, und wie sich Europa zu einem zunehmend gefährlichen Platz entwickelte. Ohne das »Schmieröl« eines flüssigen Devisenkurses ist die Wirtschaft der einzelnen Länder nicht in der Lage, sich mit ihren ökonomischen Zyklen und ihrer Produktivität in Einklang zu bringen. Stattdessen müssen große Wohlstandstransfers von den reicheren in die ärmeren Länder geleistet werden.

Abhängigkeit Das schafft eine Kultur der Abhängigkeit und neuerdings auch der Abneigung. Ein Nebenprodukt ist die massive Jugendarbeitslosigkeit, die in großen Teilen Südeuropas und sogar in Frankreich existiert. Antipathie baut sich auf, wenn »Geberländer«, die Transferleistungen erbringen müssen, zunehmend harsche Kritik daran üben, wie diese Länder wirtschaften. In einigen Fällen, einschließlich Italien und Griechenland, wurden Führungspersonen installiert, die von der EU unterstützt wurden.

Das Problem ist, dass Ressentiment Extremismus erzeugt, und dass wir heute mehr Rechts- und Linksextremismus in Europa haben als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Politischer Extremismus wird zum Chaos führen – und anschließend zum Kollaps des Euro. Und wem wird man dann wohl die Schuld geben?

Die Dysfunktionalität des Euro ist ein Desaster für die EU. Richtig, Großbritannien ist nicht Teil der Eurozone. Aber wenn das Schiff untergeht, wird alles in seinem Kielwasser mit in die Tiefe gezogen – auch wir. Der Brexit bietet die Möglichkeit, den Tanker in eine andere Richtung zu steuern. Die Führung der EU wird das nicht von alleine tun. Sie will ein föderales Europa, ein europäisches Imperium einschließlich des Euro als Einheitswährung.

Kurs Wenn sie das Schiff nicht selbst auf einen neuen Kurs steuert, müssen wir abspringen, uns in Sicherheit bringen und den Mitreisenden zeigen, dass es möglich ist, auch außerhalb zu gedeihen. Wir können in Frieden aussteigen. Hoffentlich werden die anderen uns folgen.

In seinem neuen Buch über Nationalismus hat Yoram Hazony, der Präsident des Herzl-Instituts, erklärt, dass Imperien daran scheitern, dass Menschen sich der Entleerung ihrer Kultur verweigern. Sie werden unter größere Einheiten subsumiert, die über keine echte Identität oder Zusammenhalt verfügen.

Erfolgreiche, frei handelnde liberale Demokratien erklären sich nicht gegenseitig den Krieg. Ich würde Europa gerne als Versammlung von liberalen, freien Marktwirtschaften sehen, die miteinander und global handeln und bei gemeinsamen Interessen wie Sicherheit und Umwelt kooperieren. Sie sollten zudem unterschiedliche Freiheiten und Kulturen respektieren, während sie es ablehnen, zentrale Regeln aufgezwungen zu bekommen.

Wenn die Demokratie bedroht ist, dann fühlen Juden sich bedroht. Die Demokratie ist in der Tat bedroht, aber nicht durch den Brexit, sondern durch die Art, in der das politische Establishment in Großbritannien und im Ausland die britischen Wähler betrügt, die 2016 bei dem EU-Referendum abgestimmt haben.

Der Autor ist ein britisch-jüdischer Unternehmer. Er betreibt die Lachs-Räucherei H. Forman & Son in London. Seit Mai 2019 ist er Abgeordneter der Brexit-Partei im EU-Parlament in Brüssel.

 

CONTRA –  Rabbiner Walter Rothschild: Englands Rückzug aus der EU fördert Misstrauen gegen Minderheiten

Wir Juden sollten wissen, was es heißt, mit geschlossenen Grenzen konfrontiert zu werden. Wir sollten erkennen, wenn ein bisher weltoffenes Land plötzlich nur noch nach innen schaut, kein Vertrauen in die Nachbarländer mehr hat, misstrauisch wird gegenüber Ausländern und Minderheiten. Und nun erfahren wir, was es heißt, plötzlich als »Ausländer« im eigenen Land behandelt zu werden, als unerwünschte Fremdkörper.

Egal, welche ökonomischen und politischen Argumente für den Brexit angeführt werden – diese Entwicklung ist leider in »Großbritannien« zu beobachten. Und dabei ist nicht einmal klar, welches Verhältnis die Menschen in Schottland, Nordirland, Wales und Cornwall in der Zukunft zu England haben werden. Es ist ein »Kleinbritannien« geworden: nicht nur eine Insel, sondern eine Blase.

Fake News Das Land ist gespalten. 2016 haben viele Briten bei dem Brexit-Referendum aufgrund falscher Informationen – Fake News, Lügen – gegen die »Dominanz Brüssels« gestimmt – ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, welche Alternativen zur EU-Mitgliedschaft realistisch sind.

»Vielleicht sind Juden die letzten Europäer. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man nicht über die eigenen Grenzen hinaus denkt.« Rabbiner Walter Rothschild

Man hat mehr Geld für Gesundheit versprochen und weniger »Ausländer, die uns die Jobs wegnehmen«. Die Wahrheit sieht anders aus: weniger Geld und sogar ein Mangel an Arbeitskräften, weil die Ausländer England (zu Recht) fernbleiben. Die Befürworter des Brexit haben mehrere Handelsabkommen und mehr Reichtum in Aussicht gestellt – stattdessen gibt es bisher kaum Handfestes, die Auslandsinvestitionen sinken, große Firmen und Arbeitgeber verlassen London, und Billionen müssen ausgegeben werden, um den Brexit »vorzubereiten« – was auch immer das bedeuten sollte.

Nur knapp 52 Prozent stimmten dafür, und trotzdem wird behauptet, das sei der »Wille des Volkes«. Bisher hat sich niemand um die berechtigten Sorgen der 48 Prozent gekümmert, die dagegen waren. Nein, plötzlich wird man beinahe als Verräter betrachtet, wenn man »gegen den Willen des Volkes« ist – auch als Richter und als Parlamentarier. Die Arroganz der »Leavers« ist atemberaubend, obwohl sie nach drei Jahren noch immer kein konkretes Konzept haben und bereit sind, selbstzerstörerisch und ohne Plan aus der EU zu »crashen«.

Zukunft Einige Briten haben mittlerweile bemerkt, dass sie in Zukunft in anderen europäischen Ländern wie Ausländer behandelt werden. Sie werden nun Visa brauchen, Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaubnisse. Übrigens wurden alle Briten, die mehr als 15 Jahre auf dem europäischen Kontinent lebten (ich selbst bin einer von ihnen) von der Teilnahme am Referendum ausgeschlossen, obwohl wir am meisten zu verlieren haben.

Anderen Briten ist mittlerweile endlich aufgefallen, wie viel sie aus EU-Töpfen bekommen haben – das wurde bisher immer verschwiegen. In einigen Ländern stehen große Schilder auf Bahnhöfen oder Autobahnen: »Mit EU-Geldern gefördert«. Das hat man in England nie gesehen. Es wurde immer nur behauptet, man müsse mehr und mehr an Europa abgeben und weniger dafür erhalten – alles gelogen. Die Bauern, die Fischer und die Universitäten beginnen schon zu leiden.

Endlich haben einige Parlamentarier versucht zu bremsen – aber zu wenig und zu spät. Ein demokratisches System, das auf einer Regierungs- und einer Oppositionspartei beruht, hat jahrelang versagt, und viele Wähler haben das mit Entsetzen wahrgenommen. Es wird Zeit brauchen, Vertrauen zwischen Briten und Europäern, aber auch zwischen Briten und Briten wiederaufzubauen. Wenn das überhaupt geht.

Beziehungen Die Beziehungen innerhalb Europas waren immer kompliziert, und man sollte auch nicht außer Acht lassen, wie das »protestantische« England unter Königin Elisabeth I. gegen das »katholische« Schottland und Maria Stuart kämpfte, oder die Geschichte zwischen Katholiken und Protestanten in Irland. Überhaupt sollte man vorsichtig sein, einen neuen Nationalismus auf den Plan zu rufen.

Über mehrere Jahrzehnte haben Deutsche, Franzosen, Belgier, Spanier, Italiener, Niederländer und andere es geschafft, in relativem Frieden und Toleranz miteinander zu leben. Es war nicht immer einfach, es hat Geld, Geduld und Papier gekostet, aber es funktionierte. Jetzt sagen die Briten über Europa: »Die da drüben« statt »wir«.

Europa als Feindbild darzustellen, gegen das die armen, kleinen, tapferen Briten kämpfen müssen, kann gefährlich werden. Nationalismus kann verschiedene Formen annehmen. Und es besteht keine Garantie dafür, dass die EU so bleiben wird, wie sie ist. Die Welt hat sich geändert, das Commonwealth hat an Bedeutung verloren, und die »pazifischen Tigerstaaten« sind auf dem Vormarsch. Nostalgie für »gute alte Zeiten« ist fehl am Platz.

Man sagt, dass die Juden die letzten Jugoslawen waren, als das Land in Kroatien, Serbien, Montenegro, Slowenien zerfiel – die Letzten, die die Vorteile des Zusammenlebens erkannten. Vielleicht sind Juden die letzten Europäer. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man nicht über die eigenen Grenzen hinaus denkt.

Der Autor ist in Bradford (Großbritannien) geboren. Er wurde in London ordiniert und ist heute unter anderem assoziierter Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde Hamburg.

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