Es sind minus 14 Grad an diesem Montagvormittag in Auschwitz-Birkenau. Weit entfernt im Hintergrund ist das leise Rattern eines Zuges zu hören, der durch das polnische Oswiecim rollt. Man kommt nicht umhin, daran zu denken, was dies vor 70 Jahren bedeutete. Am Eingang zum ehemaligen Vernichtungslager steht frierend eine zehnköpfige Gruppe aus Warschau und hisst die israelische Flagge. Es sind Mitglieder der dortigen jüdischen Gemeinde. »Wir freuen uns, dass die Knesset heute hier so zahlreich vertreten ist. Die Abgeordneten tun das Gleiche, was auch wir in unserer Gemeinde möchten: die Vergangenheit nicht vergessen, aber auch die Chancen nutzen und jüdisches Leben erneuern«, sagt Moshe Bloom. Der Israeli ist Rabbiner und amtiert seit einem halben Jahr in Warschau.
Vieles ist anders an diesem 69. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Denn neben rund 30 Schoa-Überlebenden und zahlreichen geladenen Gästen sind diesmal 54 Abgeordnete der Knesset und damit knapp die Hälfte des israelischen Parlaments nach Auschwitz gereist. Es die größte Auslandsdelegation der Knesset in ihrer Geschichte. Die Parlamentarier kommen an den Ort des Massenmords, »um dem Schmerz zu erlauben, sich tief in unsere Herzen zu brennen«, hatte Knessetsprecher Yuli Edelstein vergangene Woche gesagt. Er selbst reiste entgegen ursprünglicher Planung wegen des plötzlichen Todes seiner Frau nicht mit.
Die Knessetdelegation wurde von sechs Ministern der israelischen Regierung begleitet sowie von rund 250 Personen des öffentlichen Lebens, darunter Schoa-Überlebende, der aschkenasische Oberrabbiner David Lau und der Leiter der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem, Avner Shalev.
Überlebende Initiiert und mitfinanziert hatte den Auschwitz-Besuch die jüdische Stiftung »From the depths«. Deren Vorsitzender, der 27-jährige Jonny Daniels, sagte im Vorfeld: »Ich bin Teil der letzten Generation, die mit den Überlebenden sprechen kann.«
Die Delegation besuchte zunächst das Stammlager Auschwitz, anschließend nahm sie im Vernichtungslager Birkenau an der zentralen Gedenkstunde teil. »Auschwitz wird für immer ein schwarzes Loch bleiben und für das Schlimmste stehen, was geschehen kann. Die Stimme, die durch Auschwitz zu uns dringt, sagt uns, dass wir Juden uns stets auf uns selbst verlassen sollten«, sagte Jitzchak Herzog, der Vorsitzende der Arbeitspartei.
Der Direktor des Auschwitz-Museums, Piotr Cywinski, hob in seiner Ansprache hervor: »Wir müssen uns klarmachen, dass die große Stille nach Auschwitz niemals kommen wird. Das Leiden der Ermordeten ist immanenter Teil unserer Zivilisation geworden.« Die letzte Lehre aus Auschwitz sei: »Nur der Mensch kann einen jeden anderen vor einem neuen vergleichbaren Unglück bewahren.« Der Zeitzeuge Noah Klieger (87) berichtete, wie er als 18-Jähriger die »Hölle Auschwitz« und deren Evakuierung überlebt hatte. »Heute sind wir stolze Bürger des Staates Israel und zugleich stolz, dass wir heute hier sein können«, sagte er.
Im Anschluss an die Gedenkstunde erinnerten die Anwesenden im gemeinsamen Gebet an die Opfer. Israels Wohnungsbauminister Uri Ariel (Habait Hajehudi) sprach das Kaddisch. Und Yizhak Vaknin (Schas), der Vizesprecher der Knesset, blies bei klirrender Kälte das Schofar.
Nach ihrem Besuch der Gedenkstätte reiste die Knessetdelegation in das 60 Kilometer östlich von Auschwitz gelegene Krakau. Gemeinsam mit polnischen Parlamentariern sowie Abgeordneten aus weiteren Ländern, darunter auch aus Deutschland, hielten sie am Abend gemeinsame Konsultationen über Fragen zu Auschwitz ab.
Der Sejm, das polnische Parlament, hatte eine Erklärung vorbereitet, die gemeinsam mit den Knessetmitgliedern verabschiedet werden sollte. Darin wird betont, dass es sich bei Auschwitz und anderen Konzentrationslagern um »deutsche Todeslager« gehandelt habe. Hintergrund ist, dass in ausländischen Medien und Gedenkansprachen häufig von »polnischen Todeslagern« die Rede ist. Zuletzt hatte US-Präsident Barack Obama diese Wendung verwendet, als er im Frühjahr 2012 den polnischen Widerstandskämpfer und Auschwitz-Kurier Jan Karski posthum mit der Friedensmedaille ehrte.
An Karski erinnerte bei der Gedenkfeier in Auschwitz auch Cezary Grabarczyk, der Vizepräsident des polnischen Sejm. »Die Welt«, sagte Grabarczyk, »reagierte leider nicht auf die Informationen über Auschwitz, die Karski ihnen übermittelte.«
Etliche rechtsgerichtete Splitterorganisationen und Internetportale in Polen hatten im Vorfeld scharf gegen den Auschwitzbesuch der Knessetdelegation protestiert und bezweifelt, dass es rechtens sei, dass ein ausländisches Parlament auf polnischem Boden eine Sitzung abhalte. Doch alle im Sejm vertretenen Parteien begrüßten die Initiative und entsandten Abgeordnete zur Gedenkfeier sowie zur gemeinsamen Sitzung mit den israelischen Parlamentariern.
Absage Ursprünglich hatte auch Sejm-Vorsitzende Ewa Kopacz an der Gedenkstunde in Auschwitz teilnehmen wollen. Doch nachdem ihr israelischer Amtskollege Edelstein wegen des Todes seiner Frau abgesagt hatte, ließ Kopacz sich von ihrem Vize Grabarczyk vertreten. Dieser mahnte zwar in der Gedenkstunde, die Bezeichnung »polnische Todeslager« sei ein »Schlag gegen das polnische Leiden«. Doch wegen Edelsteins Abwesenheit kam es letztendlich nicht zu der gemeinsamen Erklärung der Knesset-Abgeordneten und ihrer Sejm-Kollegen.
Wie israelische Zeitungen am Dienstag berichteten, mussten etwa 20 Vertreter der israelischen Delegation ihren Polenaufenthalt, der eigentlich nur für einen Tag geplant war, ungewollt verlängern. Sie saßen in der Nacht zum Dienstag auf dem Krakauer Militärflughafen fest. Wegen eines technischen Defekts an ihrem Israir-Flugzeug kamen unter anderem Wirtschaftsminister Naftali Bennett (Habait Hajehudi) und Oppositionsführer Jitzchak Herzog erst im Laufe des Dienstags mit einem Ersatzflugzeug nach Hause.