Budapest

Institution an der Donau

Als mir die neue Stelle angeboten wurde, habe ich nicht lange darüber nachgedacht», erzählt Károly Vajda, der seit wenigen Monaten das Rabbinerseminar in der ungarischen Hauptstadt leitet. «Ich wusste, dass früher oder später ein Generationenwechsel stattfinden musste und dass dies im langfristigen Interesse der Institution ist, denn wir müssen ja zeitgemäß bleiben, um die Angelegenheiten der heutigen Juden und der heutigen Gesellschaft ansprechen zu können.

Andererseits fühle ich mich als gläubiger Mensch meiner Gemeinde sehr verbunden und verpflichtet, also konnte ich diese Aufgabe, die mir anvertraut wurde, nicht einfach ablehnen.»
Vajda spricht ein sehr elegantes Deutsch und gehört zu den besten Germanisten und Literaturhistorikern Ungarns.

Geboren 1969 in Budapest, besuchte er in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren Kurse an den Universitäten in Jena und Heidelberg, bevor er eine akademische Karriere in seiner Heimat anging. Rund um seine Ernennung als Rektor gab es vor einem knappen halben Jahr eine Debatte, weil manche Kritiker sich fragten, wieso ein Germanist – und nicht, wie bisher, ein Theologe – das Rabbinerseminar leiten soll.

Die Hochschule hat eine lange Geschichte: Bereits 1806 wurden die Grundlagen einer Ausbildungsstätte für Rabbiner in Budapest gelegt.

Angesichts des akademischen Prestiges Vajdas, seiner Expertise im Bereich der religiösen Hermeneutik und vor allem angesichts der Modernisierung, die der jüdische Dachverband Mazsihisz an mehreren Fronten anstrebt, schienen solche Sorgen jedoch bereits damals übertrieben. Umso mehr stellt sich im Nachhinein die Entscheidung über diese Personalie als richtig heraus, denn der neue Rektor hat sehr ambitionierte Zukunftspläne, die, wenn umgesetzt, dem Seminar tatsächlich wichtige neue Impulse und eine internationale Öffnung ermöglichen werden.

Grundlagen Die Hochschule hat eine sehr lange Geschichte: Bereits 1806 wurden die Grundlagen einer Ausbildungsstätte für Rabbiner in Budapest gelegt, und kurz nachdem Ungarn eine gewisse Autonomie innerhalb des Habsburger Reiches erlangte, entstand 1877 das Nationale Institut für Rabbinerausbildung, das sowohl Gymnasialunterricht als auch Universitätskurse im Angebot hatte. Seitdem absolvierten hier mehr als 300 Rabbiner und zahlreiche Religionslehrer.

Selbst vor und während des Zweiten Weltkriegs konnte die Institution trotz des offiziellen Antisemitismus ihre Tätigkeit, wenn auch nur eingeschränkt, fortsetzen. Lediglich für einige Monate gegen Kriegsende, unter der Herrschaft der faschistischen Bewegung der Pfeilkreuzler, wurde das Seminar geschlossen.

Seine Räumlichkeiten dienten in dieser Zeit als eine der Sammelstellen für die ungarischen Juden, die von den ungarischen Behörden für die Deportation in die Vernichtungslager vorgesehen waren. Allerdings scheint die Entscheidung, das schöne Gebäude so zu missbrauchen, für die Faschisten keine besonders glückliche gewesen zu sein: Es ist dokumentiert, dass zahlreiche Juden, die hier gefangen gehalten wurden, bald aus dem Keller flüchten konnten.

Schon 1945 nahm die Hochschule ihre Arbeit wieder auf, doch kurz nach der Machtübernahme der Kommunistischen Partei wurde sie verstaatlicht und musste ihr Profil den neuen Umständen anpassen. Religionslehrer etwa konnten nicht mehr ausgebildet werden, denn unter dem staatssozialistischen Regime fiel der Religionsunterricht – egal welcher Konfession – aus. Dennoch überlebte das Seminar, anders als etliche weitere jüdische Bildungseinrichtungen, auch diese Diktatur und konnte nach der Wende von der Öffnung und Demokratisierung der ungarischen Gesellschaft profitieren.

Schon 1945 nahm die Hochschule ihre Arbeit wieder auf, doch kurz nach der Machtübernahme der Kommunistischen Partei wurde sie verstaatlicht.

Akademie Seit den 90er-Jahren fungiert die Hochschule erneut als konfessionelle Institution unter der Schirmherrschaft des Dachverbandes Mazsihisz. Neben Rabbinern und Religionslehrern werden hier heute auch Theologen im akademischen Sinne, Judaisten, Historiker und Sozialarbeiter ausgebildet. Letzteren kommt angesichts einer alternden Bevölkerung eine immer größere Bedeutung zu.

Dieser Diversifizierung entspricht auch eine gewisse Identitätserweiterung, die teilweise auch mit dem EU-Beitritt Ungarns und dem Bologna-Prozess zu tun hatte: Seit Ende der 90er-Jahre wurde der offizielle Name des Seminars um den Begriff «Jüdische Universität» erweitert.

Selbstverständlich nimmt ein solcher Transformationsprozess viel Zeit in Anspruch. Die Hochschule ist zum Beispiel seit Längerem auch für Nichtjuden offen. Diese können natürlich keine Rabbiner oder Religionslehrer werden, sollten aber fundierte Kenntnisse über jüdische Kultur, Geschichte und Theologie erwerben, was im Endeffekt zum Abbau diverser Vorurteile in breiteren Teilen der Gesellschaft beitragen soll. Leider konnte dieser Wunsch bisher nur zum Teil erfüllt werden, obwohl es gerade im heutigen Ungarn von zentraler Bedeutung wäre, den Austausch zwischen jüdischen und nichtjüdischen Intellektuellen massiv zu fördern.

Um dieses und andere ähnliche Ziele langfristig zu erreichen, hält es der neue Rektor Károly Vajda für geboten, die Hochschule national und vor allem international besser zu vernetzen, damit ein Relevanzgewinn auf intellektueller und akademischer Ebene erzielt werden kann.

Novum Erste Schritte für eine enge Zusammenarbeit etwa mit der deutschsprachigen Andrássy Universität in Budapest wurden bereits unternommen, und weitere Kontakte mit ähnlichen Hochschulen in Deutschland sollen in naher Zukunft ausgebaut werden. Des Weiteren ist geplant, künftig auch Hebräischlehrer auszubilden, was wiederum ein Novum nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa wäre.

Wie eine vor einigen Monaten veröffentlichte soziologische Studie zeigte, verstehen sich lediglich zehn Prozent der heutigen Juden in Ungarn als gläubig, und noch weniger nehmen auch tatsächlich regelmäßig am religiösen Leben der Gemeinden teil. Andererseits verfügt die überwiegende Mehrheit dieser Menschen über einen Hochschulabschluss, das ist viel mehr als der Durchschnitt der ungarischen Bevölkerung.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was genau von einer jüdischen Universität erwartet wird. Soll man etwa versuchen, den Menschen die Religion schmackhafter zu machen, indem der Diskurs der Rabbiner moderner, zeitgemäßer und näher an den Interessen des Einzelnen wird? Oder soll man auch (oder vor allem) auf Themen der jüdischen Kultur sowie auf allgemeingesellschaftliche Themen setzen? Aus der Perspektive des Rektors Vajda ist das kein großes Dilemma: Man muss wahrscheinlich beides tun.

In der jüdischen Gemeinde selbst sorgt der jüngste Skandal um die Eröffnung des Holocaustmuseums für zusätzlichen Zoff.

Unabhängig von der genauen Antwort auf diese Fragen setzt all dies natürlich voraus, dass die Universität weiterhin ungestört arbeiten und Zukunftspläne entwickeln kann. Und in einem «normalen» demokratischen Land wäre dies auch durchaus der Fall. Vajda übernahm jedoch sein Amt zu einem Zeitpunkt, als Viktor Orbán gerade wiedergewählt wurde, und zwar nach einem Wahlkampf, in dem antisemitische und allgemein illiberale Motive eine Rolle spielten. Auf die Frage, wie er das empfand, antwortet der Rektor diplomatisch: Er habe sich nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht.

Druck Um das Seminar herum ist es in den vergangenen Monaten immer ruhiger geworden. Kurz nach den Wahlen verkündeten die von George Soros gegründete Stiftung für eine Offene Gesellschaft und die ebenfalls von ihm finanzierte Central European University, Ungarn zu verlassen. Erstere zieht nach Berlin, Letztere nach Wien. Auch andere Organisationen, die in keiner direkten Verbindung mit dem Regimefeind Nummer eins stehen, geraten immer mehr unter Druck. Die junge Protestbewegung, die in den vergangenen Jahren die Rolle einer Opposition gespielt hat, scheint ihrerseits am Ende ihrer Kräfte und in einer Identitätskrise zu sein.

Von der eigentlichen parlamentarischen Opposition, von den Gewerkschaften oder von kritischen Medien kann ebenfalls zumindest kurzfristig nichts Relevantes erwartet werden: Sie erfüllen bereits seit Jahren eine eher dekorative Rolle, wurden arbeitsunfähig gemacht oder lähmen sich selbst durch diverse Streitereien um Personalien.

In der jüdischen Gemeinde selbst sorgt der jüngste Skandal um die Eröffnung des Holocaustmuseums für zusätzlichen Zoff. Der Chabad-Verband EMIH, der sich als Alternative zum Dachverband Mazsihisz zu profilieren versucht, akzeptierte jüngst den Kooperationsvorschlag der Regierung in der Angelegenheit des umstrittenen Museumsprojekts und brach damit den bisherigen jüdischen Boykott.

Vajda teilt hier die kritische Einstellung des Mazsihisz und hält es für wenig wahrscheinlich, dass der EMIH sich durchsetzen und den zum Teil die Schoa relativierenden Grundtenor der Museumsdirektorin und Orbán-Hofhistorikerin Mária Schmidt ändern kann.


Autonomie Auf jeden Fall könnte es nach dieser Episode etwas enger werden für den Mazsihisz und damit auch für die Jüdische Universität, zumal der EMIH seit einigen Monaten durch die Übernahme einer privaten Hochschule an einem Konkurrenzprojekt arbeitet.

Hinzu kommt, dass die Orbán-Regierung eine neue, weitreichende Reform der höheren Bildung plant. In einem ersten Schritt wurde bereits vor etwa sechs Jahren die Autonomie der Universitäten eingeschränkt und die Finanzierung für humanistische, geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer und Einrichtungen gekürzt.

Mit dem sogenannten Soros-Gesetz wurden dann 2017 die Auflagen für die Akkreditierung von Privatuniversitäten verschärft, um sicherzustellen, dass die akademisch prestigereiche, aber politisch unliebsame Central European University gehen muss. Jetzt sollen weitere Schritte in Richtung Zentralisierung unternommen werden, obwohl die Details noch unklar sind. Das Rabbinerseminar hat also jeden Grund, sich auf schwierige Zeiten einzustellen.

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