Jersey

Insel der Seligen

Hummer, Krabben, Austern, Muscheln. Es gibt Orte, an denen die Einhaltung der Kaschrut eine besonders schwere Last ist: etwa auf der Insel Jersey, rund 20 Kilometer vor der Küste der Normandie, einer unabhängigen Vogtei unter Schutz der britischen Königin. Zu den Lieblingsspeisen auf der anglophonen Insel gehören Meeresfrüchte. Und als wäre das nicht schon genug, fehlt es zudem meist an koscherem Fleisch, denn der Import ist sehr teuer.

»Es gibt hier aber auch Fische mit Flossen und Schuppen«, sagt Martha Bernstein, die 61-jährige Sekretärin der Inselgemeinde, und schwärmt von herrlicher Seezunge, von Glattbutt und Wolfsbarsch. Doch wo schon die Speiseregeln so schwer einzuhalten sind, entschädigen einen auf der Insel besondere spirituelle Momente, etwa bei Spaziergängen an den herrlichen Stränden.

Minjan Die kleine jüdische Gemeinde auf Jersey mit seinen rund 100.000 Einwohnern hat rund 40 Mitglieder. In einem weißen zweistöckigen Haus, das früher eine Kirche war, befindet sich die Synagoge. Einen Minjan bekommt die Gemeinde nur selten zusammen, deshalb fällt das Gebet häufig aus.

Manchmal aber, etwa bei Bestattungen, müssen dennoch irgendwie genügend Männer herbeigeholt werden, damit angemessen gebetet werden kann. Bisher habe das immer geklappt, sagt Bernstein, die seit einigen Jahren auch das Gemeinderundschreiben verfasst. »In meinen Mitteilungen können zum Beispiel Verlautbarungen des britischen Oberrabbiners stehen oder wie viele Challot es gerade bei uns im Supermarkt gibt«, erläutert sie. Beim letzten Mal sollen es ganze sechs gewesen sein!

An Feiertagen kam bis vor der Pandemie oft besonderer Besuch auf die Insel: der inzwischen über 90 Jahre alte Malcolm Weisman. Er ist zwar kein Rabbiner, kann aber Gebete leiten und andere Funktionen ausführen. Doch wegen der Pandemie sitzt er derzeit fest, sagt Bernstein.

gewerbe Ist die Gemeinde von Jersey nur deshalb so klein, weil sie auf einer Insel liegt? »Nein«, sagt Stephen Regal, der 73-jährige Gemeindevorsitzende. »Es liegt vielmehr daran, dass es für junge Menschen schwer ist, auf Jersey ansässig zu werden. Für das Recht, in irgendeinem Gewerbe zu arbeiten oder ein Geschäft zu eröffnen, muss man mindestens fünf Jahre auf der Insel gelebt haben und offiziell gemeldet gewesen sein. Erst nach zehn Jahren dürfen sich Zugezogene eine Bleibe kaufen«, erklärt Regal. Er weist außerdem auf die beachtlichen Wohn- und Lebenshaltungskosten hin, die etwa so hoch wie in London sind. Ausnahmen würden nur für Menschen gelten, die viel Kapital mitbringen und hier investieren wollen.

Bernstein und Regal kamen beide selbst aus England, allerdings zu einer Zeit, als es noch nicht ganz so schwer war, hierherzuziehen. »Meine Eltern wurden von den steuerlichen Vorteilen auf der Insel angezogen«, erzählt Regal. Die Geschichte der Juden auf der Insel geht jedoch bis ins 18. Jahrhundert zurück. »Es waren Händler aus Hafenstädten wie Portsmouth, die sich damals hier niederließen.«

40 Gemeindemitglieder gibt es heute auf der 100.000-Einwohner-Insel.

Die spätere Besatzung Jerseys durch Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg kam nicht unerwartet. Daher konnten sich die meisten der damaligen jüdischen Einwohner retten. Einigen, die dennoch auf der Insel verharrten, gelang es, sich bei Nichtjuden zu verstecken. Die bekanntesten sind der Physiotherapeut Albert Bedane und Dorothea Weber, die von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als »Gerechte unter den Völkern« anerkannt wurden.

Die meisten Opfer der Nazi-Okkupation der Insel waren Nichtjuden. Von den vielen, die die Besatzer verschleppten, kamen 22 nicht mehr lebend zurück. Und so ist der Liberation Day am 9. Mai bis heute einer der wichtigsten Feiertage auf der Insel und wird auch von der jüdischen Gemeinde gefeiert.

BEDRÄNGNIS Der Zweite Weltkrieg war aber nicht die einzige bedrängende Zeit für Jerseys kleine jüdische Gemeinde. Bei unabhängigen Nachforschungen zu einem Fall langjährigen systematischen Missbrauchs in einem Kinderheim auf der Insel wurde vor sieben Jahren auch ein angesehenes Gemeindemitglied genannt, das 1974 verstorben ist: Wilfred Krichefski, der erste Präsident der Gemeinde. Bis dahin war man sehr stolz auf ihn, und er genoss hohes Ansehen in der Politik und den Medien auf der Insel. Manche Gemeindemitglieder wollen es bis heute nicht wahrhaben, denn ein Porträt Krichefskis hängt weiterhin für alle sichtbar im Empfangszimmer der Gemeinde.

Die beiden Vorstandsmitglieder wollen nicht über Krichefski reden, sondern sprechen lieber über die erst vor Kurzem verstorbene Schwägerin von Stephen Regal, Anita Regal. Sie wurde 1968 mit Mitte 20 als erste Frau Rechtsanwältin auf der Insel.

Und es gibt eine weitere Frau, auf die die Gemeinde stolz ist. Sie sitzt derzeit in der Assembly von Jersey, dem Parlament der Insel. Die in Kasachstan geborene und dann nach Israel ausgewanderte Inna Gardiner ist die gewählte Vertreterin der größten Stadt der Insel, St. Helier. Außerdem ist die heute 48-Jährige Vorsitzende eines der wichtigsten Komitees, nämlich des Rechnungsprüfungsausschusses, und das, obwohl sie keiner Partei angehört. Aber die Insel ist mit 119,5 Quadratkilometern Fläche so klein, dass Menschen, die in die Politik gehen wollen, sich im eigenen Namen und ohne Parteimitgliedschaft wählen lassen können.

vorstellungen »Während ich wirklich meine eigenen Vorstellungen vertrete, war es vor der Wahl eine Wahnsinnsarbeit für meine Familie und Freunde. Wir mussten sämtliche Wahlprospekte selbst drucken und verteilen«, erzählt Gardiner, die eine Zeit lang Touristenführerin in Jerusalem war, in ei­ner kurzen Pause zwischen einem Fernsehinterview und der nächsten Ausschusssitzung der Assembly. Es war ihre Ausbildung zur Managementberaterin, die sie um die Welt führte. Ihren Mann, der selbst aus Jersey stammt, lernte sie in einem Meditationszentrum in Indien kennen.

Hat sie Erfolg als Politikerin? »Ja«, sagt sie. »Ich habe mich als Jüdin zum Beispiel für einen zweiten garantierten Weihnachtsfeiertag hier im anglikanisch dominierten Jersey eingesetzt, weil es auf der Insel viele Katholiken gibt«, berichtet sie. »Dass die Bedürfnisse verschiedener Religionen und Kulturen respektiert werden müssen, habe ich durch meinen internationalen Hintergrund gelernt.«

Gardiner bezeichnet sich selbst als »Dreitagejüdin«. In die Synagoge geht sie an den wichtigen Feiertagen. Sie ist der Meinung, dass Jerseys Gemeinde sich modernisieren muss. »Ich kenne viele jüdische Menschen, die nicht in die Synagoge gehen und lieber ein jüdisches Kulturprogramm statt einen orthodoxen Gottesdienst hätten«, sagt sie. Es gehe ihnen um modernes Hebräisch oder um Feierlichkeiten für Kinder, darunter auch Batmizwa-Feiern.

synagoge Sie mag recht haben, aber dass nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt eine Synagoge in Jersey aufgebaut wurde, ist selbst ein Wunder und, wie es scheint, ebenfalls einer jüdischen Frau der Insel zu verdanken: Stephen Regals Mutter Fay stellte seinem Vater zu Jom Kippur 1959 ein Ultimatum, berichtet Regal. »Sie sagte, entweder wird es hier eine echte Synagoge geben, oder wir kehren nach England zurück.« So kam es zur Synagoge, die noch heute mit ihrem großen Magen David nicht weit vom Fischerdorf St. Aubin steht. Ganz in der Familientradition leitet Regal heute nicht nur die Gebete in der Synagoge, sondern ist auch die offizielle und allen bekannte Stimme des Judentums der Insel.

Eines gibt es auf der Insel glücklicherweise kaum: Antisemitismus. Viele der zahlreichen Kirchengemeinden stehen der jüdischen Gemeinde äußerst wohlwollend gegenüber. Nur ein einziges Mal kam es zu einem Vorfall, der die Öffentlichkeit genauso schockierte wie die Gemeinde, als ein Hakenkreuz an die Außenwand der Synagoge geschmiert wurde. Aber sonst gibt es kaum Kriminalität oder Intoleranz auf der Insel.

Deswegen und wegen des oft wunderschönen Wetters und der idyllischen Strände und Buchten sind sich Bernstein und Regal einig: Es ist ein angenehmes und ruhiges Leben hier für Juden – egal, wie viele Hummer und Krabben sich unter der Wasseroberfläche verbergen.

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