In seinem Frisiersalon im Vintage-Stil empfängt Roni Barkats seine Kunden von Montag bis Freitag. »Samstags ist bei mir geschlossen, niemand stört sich daran«, sagt er lächelnd.
Barkats lebt seit zehn Jahren in der Hafenstadt Ajaccio im Südwesten der Insel Korsika. Geboren wurde er im südfranzösischen Aix-en-Provence. Seine Mutter ist Israelin, sein Vater ist Franzose und arbeitete einige Jahre hier auf der Insel. Um ihn zu besuchen, kam Roni Barkats früher oft nach Korsika.
»Ich erinnere mich an ein Rosch Haschana in Bastia, als ich 15 Jahre alt war. Es war das erste Mal, dass ich ein jüdisches Fest in Korsika feierte.«
Historiker stellen Korsika oft als Musterschüler dar, was den Schutz der Juden während der Zeit der Schoa angeht. Dies geht so weit, dass der frühere Präsident der hiesigen jüdischen Gemeinde, Maxime Cohen, im Jahr 2010 den Titel »Insel der Gerechten unter den Nationen« beantragte. Die Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem lehnte seinen Antrag jedoch ab. Der Titel könne nur an Personen und nicht an Regionen verliehen werden.
flüchtlinge Lange Zeit hieß es, von Korsika aus sei kein Jude deportiert worden. Mehrere Faktoren hätten zu dieser einzigartigen Situation auf französischem Boden beigetragen. Die Insel war vor allem von den Italienern besetzt, die keine Anweisungen zu Deportationen erhalten hatten. Aber den Juden halfen auch die Taten des Präfekten Paul Balley. Dieser ermöglichte es jüdischen Flüchtlingen aus dem Ausland, sich zu verstecken, und besorgte ihnen beim türkischen Konsulat in Marseille neue Pässe.
Dass die Schoa Korsika nicht erreichte, ist ein Mythos.
Korsikas blütenweißes Image wurde allerdings etwas beschädigt, als der Historiker Louis Luciani 2010 entdeckte, dass der deutsche Jude Ignace Schreter, der nach Ajaccio geflohen war, nach Sobibor deportiert wurde. Der Generalsekretär der Präfektur hatte die Abwesenheit des Präfekten genutzt, um Schreter beim Vichy-Regime auf dem Festland anzuschwärzen.
»Auch wenn viele während des Zweiten Weltkriegs vor allem in den Dörfern Juden halfen, muss man sagen: Es gibt einen Mythos über das Korsika jener Zeit«, seufzt Lina Sillamy. Die 84-Jährige, deren Urgroßvater einst Oberrabbiner der Türkei war, hat sich ihr ganzes Leben lang für die jüdische Gemeinde in Korsika eingesetzt. Während der Schoa, als sich ihre Familie in einem Bergdorf versteckt hielt, verriet sie ein junger Korse. »Meine Mutter wurde vorgeladen, aber zum Glück sagten ihr die Italiener, dass uns nichts passieren werde.«
Zahlen Man schätzt, dass auf der »Insel der Schönheit« heute 300 bis 400 Juden leben. Nach offiziellen Angaben des Konsistoriums sind es zehn. Auch wenn die Zahl sehr klein ist, verstärkt sich seit einigen Jahren das Interesse an der Gemeinde.
Vor vier Jahren veröffentlichte der frühere Benediktinermönch und Marrane Didier Meïr Long das Buch Mémoires juives de Corse. Darin stellt er die These auf, dass viele korsische Namen jüdischen Ursprungs sind: Giaccobbi, Zuccarelli oder Simeoni seien Beispiele, die seiner Ansicht nach die jüdische Herkunft vieler Korsen belegen.
Viele Korsen glauben, ihre Geschichte spiegele sich in jener der Juden wider.
Auch wenn diese These inzwischen sehr populär ist, bestreiten sie manche. So spricht der Historiker Antoine-Marie Graziani, der sich in seiner Forschung auf Korsika spezialisiert hat, von einer »gewagten Argumentation« und unterstreicht, dass sich die korsischen Familiennamen von toskanischen und lateinischen Vornamen ableiten.
»Viele Korsen sind fasziniert von der jüdischen Welt«, sagt Graziani. »Seit den 60er- und vor allem seit den 80er-Jahren haben sie sich eine eigene Ethnie erschaffen, die sich als bedroht empfindet. Sie glauben, dass sich ihre Geschichte in der der Juden widerspiegelt, die oft eine bedrohte Minderheit waren.«
Vor der Moderne findet man nur sporadische Erwähnungen von Juden, die auf der Insel lebten. »So ist zum Beispiel im 16. Jahrhundert von jüdischen Ärzten die Rede mit dem erstaunlichen Zusatz ›früherer Jude‹«, erklärt Antoine-Marie Graziani.
Im 18. Jahrhundert bat der Held der korsischen Unabhängigkeitsbewegung, Pascal Paoli, den Konsul von Piemont, bei den Rabbinern von Livorno zu intervenieren. Er wollte, dass sie den Juden erlauben, sich in L’Île Rousse im Norden von Korsika niederzulassen. »Paoli wollte einen Hafen mit einer kosmopolitischen Gemeinde erschaffen«, erklärt Graziani. »Es gab das florierende Beispiel von Livorno mit seiner großen jüdischen Gemeinde, und Paoli wollte dies in Korsika nachbilden.«
Bastia Erst im 20. Jahrhundert wird sich die jüdische Präsenz auf Korsika verstärken. Während des Ersten Weltkriegs lassen sich Juden aus Palästina und später auch aus der Türkei auf der Insel nieder. Die von den Einheimischen als »Syrer« Bezeichneten kommen vereinzelt, aber auch in größeren Gruppen. So trifft am 14. Dezember 1915 ein Güterschiff der französischen Armee mit 744 Flüchtlingen im Hafen von Ajaccio ein. Die meisten ziehen in den Norden der Insel, nach Bastia. »Erst ab diesem Zeitpunkt kann man wirklich von einer jüdischen Gemeinde sprechen, insbesondere in Bastia mit seinen Geschäften in der Rue Napoleon«, unterstreicht Antoine-Marie Graziani.
»Meine Großeltern kamen damals nach Korsika. Unsere Insel ist nicht ganz das Paradies, aber eine Art Vorzimmer des Paradieses«, witzelt Henri Levy aus Bastia. Die hübsche Synagoge, die im Herzen der Altstadt liegt, trägt den Namen seines Großvaters Meïr Toledano, der hier bis zu seinem Tod Rabbiner war.
Synagoge Levy erinnert sich noch »an die Zeit, in der man hier keinen Sitzplatz fand«. Heute gibt es keinen Rabbiner mehr, und die Synagoge, die die Gemeinde 1972 offiziell kaufte, besucht heute nur noch eine kleine Schar treuer Beter. Sie kämen nicht wirklich wegen der Religion, sondern vor allem, weil sie die Synagoge am Leben erhalten wollten, sagt Levy. Doch weil sie so wenige sind, gibt es auch in Zeiten des Coronavirus keinerlei Einschränkungen.
»Unsere Vorfahren hatten eine stark religiös geprägte jüdische Kultur, doch sie sind gestorben«, erzählt Levy. »Viele Junge sind weggezogen und haben keine Lust zurückzukehren. Vielleicht würden sich hier mehr Menschen niederlassen, wenn es Arbeit für sie gäbe.«
Zweitwohnsitz Seit einigen Jahren ist Korsika als Zweitwohnsitz sehr beliebt. Die jüdische Gemeinde bildet da keine Ausnahme. Viele Juden vom französischen Festland verbringen ihre Ferien auf der Insel. »Doch leider besteht Korsika für viele nur aus Ajaccio«, sagt Henri Levy.
Während der Hochsaison zwischen Juni und September bieten einige Läden koschere Produkte an. Man sieht dann an der Kasse mancher Geschäfte handgeschriebene Schilder, auf denen steht: »Denken Sie daran, Ihr Essen für den Schabbat zu reservieren.« Außerhalb der Saison ist es auf der Insel jedoch oft kompliziert, koschere Produkte zu bekommen.
Chabad Als er noch Student war, verbrachte der junge Chabad-Rabbiner Levi Pinson einen Großteil seiner Ferien bei Mitgliedern der korsischen Gemeinde. 2016 zog er schließlich selbst nach Ajaccio, um ein Chabad-Zentrum zu gründen. »Ich habe festgestellt, dass es in Ajaccio ziemlich viele Leute gibt, die jüdische Wurzeln haben«, sagt er. »Manche sind die Nachfahren jener Juden, die vor mehr als 100 Jahren aus Palästina kamen, aber es gibt auch Familien, die erst vor Kurzem nach Korsika gezogen sind. Viele fühlen sich allein.«
Der Rabbiner berichtet von einem polnischen Juden, der seit 15 Jahren hier lebt. »Er dachte, er sei der einzige Jude hier. Eines Tages, als er an unserem Zentrum vorbeikam, sah er einen Rabbiner mit weißem Bart – meinen Vater. Der Mann konnte es kaum glauben. Seitdem kommt er oft ins Zentrum, und wir sind gute Freunde geworden.«
Die Öffnung des Chabad-Zentrums in Ajaccio hat auch das Leben des Friseurs Roni Barkats verändert. Früher flog er zu den religiösen Feiertagen immer auf das französische Festland. »Jetzt besuche ich hier auf der Insel Schiurim, gehe am Schabbat in die Synagoge und bleibe auch an den Feiertagen in Ajaccio«, erklärt der junge Mann.
Weil sie so wenige sind, gibt es auch in Zeiten von Corona keine Einschränkung in der Gemeinde.
Vor einiger Zeit hat Barkats beschlossen, Alija zu machen. »Ich will meinen Salon verkaufen, und wenn es so weit ist, wandere ich nach Israel aus.« Er betont, seine Entscheidung habe nichts mit Antisemitismus zu tun. »Die Korsen begegnen uns mit Wohlwollen, wir fühlen uns hier sicher«, sagt er, »aber der Rest Frankreichs und Europas macht mir Sorgen.«
Von dem beunruhigenden Anstieg antisemitischer Taten, von dem das französische Festland betroffen ist, bleibt die Insel bisher verschont. Die Hakenkreuze, die 2014 an die Mauern der Synagoge in Bastia geschmiert wurden, hält man für einen Einzelfall, der das Vertrauen der Juden in die Mehrheitsgesellschaft offenbar nicht getrübt hat.
Omertà Die Gewalttaten und der Druck, den die »nichtkorsischen« Geschäfte vonseiten nationalistischer Bewegungen in den 80er-Jahren aushalten mussten, scheinen weit entfernt. Sie werden höchstens hinter vorgehaltener Hand erwähnt. In Korsika, wo traditionell eine Kultur der Omertà, des Schweigens, herrscht, vermeidet man es, von Dingen zu sprechen, die störend sein könnten.
Doch wer sich umhört, hat das vage Gefühl, dass vielleicht auch in Korsika in Wirklichkeit nicht alles immer ganz so gut ist, wie es auf den ersten Blick scheint. »Wissen Sie, wir Juden haben immer einen gepackten Koffer bei uns«, sagt die 84-jährige Lina Sillamy. »Aber hier in Korsika macht man keinen Wind und nicht viel Aufhebens darum.«
(mit Nina Schönmeier)