Der tiefschwarze Rabe ragt überdimensional über dem Erzengel Gabriel. Seine Flügel weit aufgerissen, der Schnabel bedrohlich geöffnet. Mit einer Kralle hält er sich noch am Gesims des hinter ihm liegenden Tores fest, die andere Kralle greift schon nach dem Erzengel. Der Adler soll den deutschen Reichsadler darstellen, der Erzengel Gabriel Ungarn.
Die Symbolik des Denkmals verteilt klar die Rollen: Ungarn ist Opfer, das vom Dritten Reich in Gestalt des tiefschwarzen Reichsadlers angegriffen wird. Auf der Gedenktafel, die hinter dem Adler auf dem Tor platziert ist, steht in großen eingravierten Buchstaben: »Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung«.
Was das Denkmal uns verheimlicht: dass Ungarn unter Miklós Horthy freundschaftliche Beziehungen zu Hitlers Dritten Reich pflegte und ab 1941 als Teil der Achsenmächte militärisch den Kriegszug durch Europa unterstütze. Ebenso verheimlicht es uns, dass Hórthys Regierung ab 1944 Eichmanns Sondereinsatzkommando bei der systematischen Deportation von über 400.000 ungarischen Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager unterstützte. Ob Ungarn vor diesem Hintergrund eine Opferrolle eingestanden werden kann, ist mehr als fraglich.
Sein Denkmal wurde 2013 von Viktor Orbáns Kabinett in Auftrag gegeben und ist eines von vielen Beispielen, das die systematische Verzerrung der Geschichte durch die rechtsnationale Fidesz-Regierung verdeutlicht. Opfer-und Täterrollen werden verkehrt, Geschichte umgeschrieben. Das Ziel: Die Verbreitung historischer Narrative, die der politischen Agenda des Regimes entsprechen.
Seit dem 7. Oktober 2023 ist diese Form von Antisemitismus in den Hintergrund geraten. Unser Fokus hat sich aus nachvollziehbaren Gründen verschoben: Wir haben den Antisemitismus rechtsnationaler illiberaler Regime im Herzen Europas zugunsten des Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft, der sich in Massendemonstrationen, digitalen Räumen oder Universitätsbesetzungen präsentiert, vernachlässigt.
Mit unseren Netzwerkmitgliedern vom European Practitioners Network against Antisemitism (EPNA) haben wir uns Ende April in die ungarische Hauptstadt begeben und uns über drei Tage mit der politischen Instrumentalisierung von Geschichte durch hybride Regime, wie dem in Ungarn, beschäftigt. 46 Vertreter*innen von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus der EU und darüber hinaus, die sich allesamt der Bekämpfung von Antisemitismus widmen, sind im Rahmen von Vorträgen und Diskussionsrunden zusammengekommen, um für ihre Arbeit relevante Fragestellungen zu diskutieren:
- Was bedeutet der stetige Anstieg hybrider Regime für den weiteren Kampf gegen Antisemitismus, wenn die Verzerrung und Leugnung der Schoa ein politisches Instrument dieser Regime darstellt?
- Wie kann die Zivilgesellschaft zur Entmystifizierung erinnerungspolitischer Verzerrungen beitragen und sinnvollen Protest dagegen organisieren?
- Was kann man in diesem Zusammenhang von zivilgesellschaftlichen Protesten in Ungarn lernen und welche Hindernisse verhindern zivilgesellschaftliche Allianzen heute?
Die Diskussionen, die wir führten, waren nicht selten kontrovers, auch von innenpolitischen Polarisierungen blieben unsere Debatten nicht verschont. Vorwürfe von (Selbst-)Zensur und die Frage, wie unabhängig zivilgesellschaftliche Organisationen bleiben können, wenn sie durch öffentliche Gelder in solchen Ländern finanziert werden, kennzeichneten die hitzig geführten Debatten. Wie problematisch Letzteres sein kann, wird deutlich, wenn man bedenkt, welcher Druck auf Organisationen lastet, die auch nach innen Kritik üben müssen und möchten.
Bei unseren netzwerkinternen Veranstaltungen haben die Mitglieder die Möglichkeit, offen über das zu sprechen, was sie derzeit bewegt und sorgt. Gemeinsam mit ihren Kollegen aus West-, Süd- und Mitteleuropa entwerfen sie Strategien, wie sie diesen Problemen gerecht werden können. Nicht selten stoßen sie auf Überschneidungen: die Antisemitismusbekämpfung in Osteuropa unterscheidet sich trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen in vielerlei Hinsicht nicht von jener in Westeuropa.
Ein beträchtlicher Teil unserer Mitgliederschaft stammt aus Ländern, die laut internationaler Beobachter*innen in die Kategorie hybrid fallen: Georgien, Serbien, Ungarn, die Ukraine. Insbesondere dort ist die Lage von Organisationen, die zu Antisemitismus arbeiten, schwer. Deshalb sind multilaterale Projekte, die wir ermöglichen können, besonders wertvoll.
Eine Aussage, die in den Debatten immer wieder fiel, ist uns besonders in Erinnerung geblieben: »Das Ausmaß von Antisemitismus ist auch immer ein Indikator dafür, wie beständig eine Demokratie in einem Land ist.« Je mehr Antisemitismus sich in einer Gesellschaft verbreitet, desto fragiler die Demokratie demnach.
Auf die EU, die in weniger als einem Monat ihr Parlament neu wählen lässt, scheint diese Annahme zuzutreffen. Sie steckt in einer tiefen Demokratie- und Legitimationskrise, die sich seit Jahren zuspitzt. Der Anstieg antisemitischer Ausschreitungen und Straftaten erhält aus dieser Perspektive eine neue Tragweite. Das Orbán-Denkmal ist insofern auch nur ein weiteres Beispiel dafür, wie dramatisch die Lage in der Antisemitismusbekämpfung wird, wenn illiberale Kräfte an Aufwind erfahren und Wahlen gewinnen.
Der Protest gegen Orbáns Denkmal war so laut und so groß, dass das Denkmal in einer Nacht-und Nebelaktion auf dem Platz erbaut werden musste. Eine Einweihungsfeier fand nicht statt. Da das Denkmal häufig mit Eiern beschmissen wurde, stand es lange hinter einer Absperrung und musste durch die Polizei bewacht werden. Orbán hat sein Denkmal bekommen, aber nicht die Unterstützung eines großen Teils der Budapester Bevölkerung. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass unbeliebte Denkmäler den Weggang ihrer Erbauer oft nicht überleben. Die Hoffnung ist, dass Orbáns Denkmal ein ähnliches Schicksal widerfährt.