Eva Friedlander-Dukesz schüttelt energisch den Kopf, sodass ihr grauer Haarschopf bebt. »Oh, nein!«, sagt sie auf die Frage, ob sie häusliche Pflege in Anspruch nimmt. Eva Friedlander-Dukesz ist 95. Sie stammt aus Budapest, überlebte dort mit der Hilfe eines Freundes und unter falscher Identität die Herrschaft der Nationalsozialisten, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg, ging später nach Italien und lebt seit 1950 in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia.
Sie ist fast blind, leidet unter fortschreitender Makula-Degeneration. Seit Kurzem muss sie außerdem einen Rollator benutzen. Darüber ärgere sie sich furchtbar, sagt sie. Nicht nur, weil sie eitel sei. Sondern weil die Leute ihr andauernd helfen wollten. »Das ist ja gut gemeint, aber ich kann das nicht leiden«, sagt sie, lacht und setzt hinzu: »Ich bin kompromisslos unabhängig.«
Lobbyarbeit Menschen wie Eva Friedlander-Dukesz sind einer der Gründe, warum die Neufassung des Older Americans Act von 1965 – eines Gesetzes, das die Finanzierung von Wohlfahrtsprogrammen für ältere Menschen in den USA regelt – jetzt auch eine Passage über die Hilfe für Holocaust-Überlebende enthält. Seit Ende April ist das Gesetz rechtskräftig. »Wir sind froh über das Ergebnis«, sagt Shelley Rood von den Jewish Federations of North America (JFNA), dem Dachverband jüdisch-amerikanischer Hilfsorganisationen. Fast fünf Jahre lang hat die JFNA mit zäher Lobbyarbeit für die Aufnahme der Passage in den Gesetzestext gekämpft.
Ältere jüdische Amerikaner, darunter auch Schoa-Überlebende, hätten zwar schon vorher von dem Gesetz und den entsprechenden Leistungen profitiert, betont Rood, die bei JFNA für die Betreuung von Holocaust-Überlebenden zuständig ist. Auch würde in der Neufassung kein zusätzliches Geld bereitgestellt. Doch mit der expliziten Erwähnung von Holocaust-Überlebenden setze der Staat ein Zeichen – »und erhöht die Aufmerksamkeit dafür, dass sie sehr sensibel sind und besondere Bedürfnisse haben«.
Bedürfnisse, die viel mit Unabhängigkeit und Kontrollverlust zu tun haben, wie bei Eva Friedlander-Dukesz. Wenn diese Menschen ihr Zuhause verlassen müssten, sich nicht mehr selbst versorgen könnten, nicht mehr selbst entscheiden könnten, was sie wann und in welcher Menge essen, »dann kann dieser Verlust der Autonomie Erinnerungen an das einst durchlebte Trauma wachrufen«, sagt Rood. Aus diesem Grund lehnen viele Überlebende häufig auch den Umzug in Pflegeheime kategorisch ab.
Jüdische Hilfsorganisationen seien für diese Bedürfnisse seit Langem sensibilisiert, sagt Rood. Ihre Hoffnung: »Dass demnächst auch Holocaust-Überlebende, die Pflegeleistungen von nichtjüdischen Einrichtungen erhalten, von dem speziellen Fokus profitieren.«
Der Bedarf ist jedenfalls da: In den USA leben mehr als 100.000 Holocaust-Überlebende. Nach Schätzungen der JFNA ist knapp ein Viertel mehr als 85 Jahre alt, jeder Vierte lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Older Americans Act Die JFNA erhalten Geld aus bundesstaatlichen Programmen wie dem Older Americans Act und den Krankenversicherungen für Rentner und Arme, Medicare und Medicaid. Alle drei Programme wurden Mitte der 60er-Jahre ins Leben gerufen, als Teil von Präsident Lyndon B. Johnsons umfassender Sozialreform, der Great Society. Erst im März dieses Jahres hat die US-Regierung außerdem zwölf Millionen Dollar zusätzlich für die Unterstützung von Holocaust-Überlebenden bereitgestellt – Geld, das in den kommenden fünf Jahren über jüdische Hilfsorganisationen ausgezahlt werden soll.
Zu den Leistungen, die JFNA über lokale Partnerorganisationen für ältere Juden in den USA anbietet, gehören: ambulante Pflege, Hilfe im Haushalt, Transportdienste, Essen auf Rädern und in einigen Städten kostenfreie Zahnarztbehandlung. Eine der Partnerorganisationen sind die Jewish Family and Career Services, kurz: JF&CS. Außer von den JFNA erhalten sie Geld aus verschiedenen Entschädigungsfonds der Bundesrepublik Deutschland, die von der Jewish Claims Conference verteilt werden, sowie aus privaten Spenden.
In Atlanta ist mehr als ein Drittel der Holocaust-Überlebenden über 85 Jahre von Altersarmut betroffen. Amy Neuman koordiniert die Hilfsprogramme für Überlebende bei JF&CS in der Südstaatenmetropole. »Die Überlebenden haben Zugang zu allen Programmen für ältere Bürger«, sagt sie. Zusätzlich unterstütze die Organisation Schoa-Überlebende mit besonderen Zuschüssen für Arzt- und Krankenhausbesuche sowie für verschreibungspflichtige Medikamente. Es gibt kurzfristige Finanzhilfe in Krisensituationen. »Außerdem organisieren wir soziale Programme, die Überlebende zusammenbringen«, sagt Neuman.
unterstützung Eva Friedlander-Dukesz gehört zu denen, die seit Jahren die Hilfe von JF&CS in Anspruch nehmen und demnächst vielleicht auch vom Older Americans Act profitieren könnten – wenngleich nicht in erster Linie finanziell. »Ich bin wirklich sehr froh, dass es die Organisation gibt«, sagt sie. Zwei- bis dreimal in der Woche komme jemand, der sie zum Einkaufen oder zu Arztterminen fahre. Und einmal in der Woche hilft ihr eine Mitarbeiterin dabei, Post zu lesen und zu beantworten, Rechnungen zu bezahlen, Antragsformulare auszufüllen. Bis vor wenigen Jahren hat sie noch gearbeitet, als Einkäuferin und Sachverständige für Antiquitäten, aber das gehe jetzt leider nicht mehr, wegen ihrer Augen.
Seit dem Tod ihres Mannes vor 15 Jahren, der als Wissenschaftler an der Entwicklung einer Methode zur Massenherstellung von Penicillin beteiligt war, lebt sie allein in einer kleinen Eigentumswohnung in Atlanta, mit vielen Fenstern, viel Licht und einer Terrasse voll wuchtiger Terrakottatöpfe, aus denen Blumen und Sträucher sprießen.
»Das ist mein Refugium«, sagt Friedlander-Dukesz. Sie hat zwei Kinder und vier Enkel. Ihr Sohn ist Plastischer Chirurg in Atlanta, die Tochter Tierärztin in Denver. »Meine Kinder haben ihr eigenes Leben«, sagt sie. »Und solange ich meine Freiheit behalten kann, geht es mir gut.«