Ein Besuch an den einstigen Massengräbern in der Schlucht von Babi Jar gehört zum traurigen Pflichtprogramm jüdischer Delegationen in Kiew. Die Böschung ist mit Bäumen und Sträuchern bewachsen, die Besucher werfen Blumen hinab und verharren im stillen Gebet für die Ermordeten. Das Massaker von Babi Jar vor 75 Jahren zählt zu den grausamsten Massenverbrechen des Zweiten Weltkrieges. Mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann auch die systematische Ermordung der Juden in den eroberten Gebieten.
Angehörige eines SS-Sonderkommandos und zweier Polizeibataillone erschossen am 29. und 30. September 1941 in Babi Jar mehr als 33.700 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Heute erinnert am Schauplatz des Massenmordes wenig an die Verbrechen. Die Schlucht im Nordwesten der ukrainischen Hauptstadt wurde nach dem Krieg eingeebnet. Man legte auf dem Gelände einen Kultur- und Erholungspark an, pflanzte Pappeln und schnell wachsende Birken. Spaziergänger führen Hunde im Park aus, Mütter schlendern mit ihren kleinen Kindern auf den mit Herbstblättern bedeckten Wegen.
Blutspur Am 19. September 1941 nahmen Truppen der Wehrmacht die damalige Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik ein. Ihnen folgte das Sonderkommando 4a der SS-Einsatzgruppe C, das bereits eine Blutspur hinter der Front hinterlassen hatte. Nur zehn Tage später wurde die damals am Stadtrand gelegene »Weiberschlucht« zum Massengrab für den Großteil der Kiewer Juden, denen es nicht gelungen war, rechtzeitig vor dem Einmarsch der Deutschen zu fliehen. Vor dem Krieg hatten etwa 200.000 Juden in der Stadt gelebt.
Die Deutschen forderten alle Juden der Stadt auf Plakaten auf, sich am Morgen des 29. September an einer Straßenkreuzung in einem westlichen Stadtteil zu versammeln. Sie sollten Dokumente, Geld, Wertsachen und warme Kleidung mitbringen: »Wer von den Juden dieser Anordnung nicht Folge leistet, wird erschossen«, drohten die Besatzer.
Viele Juden, die zum Sammelpunkt kamen, glaubten, sie würden umgesiedelt. Außerdem hofften sie wohl, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, werde ihnen kein Leid geschehen. Eine endlose Kolonne von Menschen machte sich zu Fuß auf den Weg zum damaligen jüdischen Friedhof im Nordwesten der Stadt, vor allem Frauen, Kinder und ältere Männer.
massaker Nahe der Schlucht mussten die Menschen ihre Wertsachen und Dokumente abgeben und sich ausziehen. Dann wurden sie erschossen. Viele Opfer wurden lebendig begraben, weil die Kugeln sie nur verwundet, aber nicht getötet hatten. Nur wenige überlebten das Massaker. So ließ sich die 30-jährige Dina Pronitschewa, die am Abend des 29. September erschossen werden sollte, auf die Leichen in der Schlucht fallen, bevor die Schüsse sie trafen. Sie stellte sich tot. Es gelang ihr später, sich aus der bereits mit einer dünnen Erdschicht bedeckten Grube zu befreien und im Schutz der Dunkelheit zu entkommen.
Auch nach dem Massaker ging das Morden in Babi Jar weiter. Tausende weitere Juden wurden dort in den folgenden Monaten erschossen, sowjetische Kriegsgefangene, Partisanen und Roma wurden hingerichtet. Bis zur Befreiung Kiews durch die Rote Armee am 5. November 1943 kamen in Babi Jar nach offiziellen sowjetischen Schätzungen rund 100.000 Menschen ums Leben.
Die sowjetischen Behörden hatten nach dem Krieg kein Interesse daran, die Erinnerung an den Massenmord wachzuhalten. Der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko thematisierte das offizielle Schweigen in einem Gedicht aus dem Jahr 1961. Es begann mit der Zeile: »Über Babi Jar stehen keine Denkmäler.«
mahnmal Das änderte sich erst Mitte der 70er-Jahre, als ein monumentales »Mahnmal für sowjetische Bürger und für die von den deutschen Faschisten erschossenen Kriegsgefangenen, Soldaten und Offiziere der Sowjetischen Armee« errichtet wurde. Verschwiegen wurde allerdings, dass Juden die Hauptgruppe der Opfer waren. Erst seit 1991 erinnert eine bronzene Menora an die jüdischen Opfer des Massakers. Zum 75. Jahrestag des Verbrechens plant die ukrainische Regierung einen Staatsakt.
Auch die Claims Conference in Deutschland erinnert an die Opfer. »Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, der Zehntausende ermordeter jüdischer Kinder, Frauen und Männer, die in Babi Jar hingemetzelt wurden, zu gedenken«, sagte Rüdiger Mahlo, der Repräsentant der Claims Conference in Deutschland.
»Babi Jar ist ein Synonym für den Massenmord an den osteuropäischen Juden. Anders als der Gastod in Auschwitz sind die Massenerschießungen in Babi Jar vor den Toren Kiews nicht fest im kollektiven Gedächtnis verankert«, sagte Mahlo.
Er erinnerte zugleich an die schwierige Lage der Holocaust-Überlebenden in der Ukraine. »Da die Mehrheit von ihnen unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist es unsere gemeinsame Pflicht, ihnen einen Lebensabend unter würdigen Bedingungen zu ermöglichen.«
Überlebende Vor zwei Jahren gab es in der Ukraine noch rund 25.000 Schoa-Überlebende. Die Claims Conference wandte 2014 für sie rund 27 Millionen Euro in Form von Sozialprogrammen auf. Angesichts des steigenden Pflegebedarfs der betagten Empfänger habe sich dieser Betrag 2015 und 2016 noch erhöht.
Die 1951 gegründete Claims Conference vertritt die jüdische Gemeinschaft bei Verhandlungen zur Entschädigung von NS-Opfern. Dem internationalen Dachverband gehört auch der Zentralrat der Juden in Deutschland an. Unter anderem verhandelt die Claims Conference in jährlichen Gesprächen mit dem Bundesfinanzministerium über die Höhe monatlicher Beihilfen für jüdische NS-Verfolgte. (mit epd)