Biografien

»Immigranten können vieles weitergeben«

Frau Kobrin, Sie haben das Projekt »Die andere Herkunft« ins Leben gerufen. Worum geht es dabei?
Es ist Teil einer größeren Forschungsarbeit, in deren Rahmen ich Biografien von russisch-jüdischen Einwanderern in den Vereinigten Staaten untersuche. Das »YIVO Institute« hat in den 30er- und 40er-Jahren Materialien von Juden, die aus Osteuropa in die Neue Welt immigriert sind, gesammelt, denn jeder, der in ein anderes Land kommt, hat eine Geschichte zu erzählen. Es gab eine große Immigrationswelle Anfang des 20. Jahrhunderts und eine weitere Ende des 20. Jahrhunderts. Ich beschäftige mich nun mit der zweiten großen Auswanderung in den frühen 1990er-Jahren, denn ich glaube – so wie auch das »YIVO Institute« –, dass Immigranten vieles zu erzählen haben und vieles weitergeben können.

Wer nimmt an Ihrem Projekt teil?
Wir sind noch mitten im Suchprozess. Ich ermutige natürlich alle, die eine Auswanderungsbiografie haben, sich bei uns zu melden. In den Vereinigten Staaten habe ich Anzeigen in russisch-jüdischen Zeitungen geschaltet. Was Deutschland betrifft, habe ich große Hilfe durch meine Kollegin Ljudmila Belkin erfahren, die mich tatkräftig unterstützt. Die Herausforderung ist, ältere Migranten zu finden, die ihre Biografien – zum Beispiel über das Internet – schreiben wollen. Aber genau diese Menschen, die den Großteil ihres Lebens in der ehemaligen Sowjetunion verbracht haben, sind die Quelle für uns, wenn es darum geht zu verstehen, wie es war, in der Sowjetunion jüdisch zu sein.

Worin besteht denn der Unterschied zwischen der Einwanderung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der in den frühen 1990er-Jahren?
Das Judentum wurde ganz unterschiedlich verstanden. Was es bedeutete, jüdisch zu sein, ist Anfang des 20. Jahrhunderts etwas anderes als in der Sowjetunion.

Ausgehend von den Biografien, die Sie bereits gelesen und ausgewertet haben: Wie haben sich junge Migranten gefühlt, die aus der ehemaligen Sowjetunion in die USA eingewandert sind?
Was erstaunlich ist: Viele der zumeist jungen russisch-jüdischen Einwanderer sind heute beliebte Autoren in den Vereinigten Staaten. Jeder möchte der nächste Gary Shteyngart sein. Aber was sich in den Geschichten widerspiegelt, ist, dass sie über das Materielle in den USA erzählen. Wer zum Beispiel in den 40er-Jahren zur Welt kam und in den 90ern ausgewandert ist, wird eher darüber berichten, wie schwer das Leben in der Sowjetunion war. Die Jüngeren hingegen staunen über große Autos und über die Konsumwelt in den USA.

Wie offen gehen Menschen auch mit sehr persönlichen Schicksalen um?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass alle gern ihre Lebensgeschichte teilen, sie diese aber manchmal selbst für historisch nicht so bedeutend halten. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Sie sind höchst interessant. Wenn jüngere Menschen ältere Verwandte, Bekannte, Freunde, von denen sie wissen, dass sie aus der ehemaligen Sowjetunion ausgewandert sind, dabei unterstützen könnten, ihre Biografie aufzuschreiben, wäre das wunderbar.

Sind soziale Medien hilfreich, wenn es darum geht, sich zum ersten Mal mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen?
Ja, durchaus. Zum Beispiel, wenn es um Erinnerungen aus der Kindheit geht, berichten junge Menschen sehr ausführlich auf Facebook, was andere eventuell dazu anregen kann, sich ebenfalls über Bilder oder Kommentare ihrer eigenen Geschichte anzunähern. Viele Biografien werden allerdings immer noch klassisch auf Papier verfasst.

Was ist an russisch-jüdischer Emigration einzigartig?

Die Migration von russischen Juden hat jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert nachhaltig verändert. Mein Ansatz ist: Wir wissen viel über die Einwanderung von Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber über die der frühen 90er-Jahre wissen wir ziemlich wenig. Man muss beides in seiner Gesamtheit betrachten. Das russische Judentum zu verstehen, ist sehr wichtig, weil die Immigranten aus dem Teil der Welt kommen, in dem die meisten Juden gelebt haben.

Auch heute kommen viele Menschen nach Deutschland. Sie flüchten vor Bürgerkriegen und Armut. Was kann man von ihnen lernen?
Man muss etwas zurückblicken: Die Menschen, die in den frühen 90er-Jahren nach Deutschland gekommen sind, waren die erste große nicht-christliche Gruppe, die sich anschließend auch dort niedergelassen hat. Aus ihren Geschichten kann man viel über Integration lernen. Zwar sind die Gründe für die Auswanderung komplett unterschiedlich, aber ihre Biografien können vielleicht bei der Beantwortung der Frage helfen, wie man Menschen integriert. Können russische Juden eine Art Vorbild sein dafür, wie Deutschland die Flüchtlinge, die gerade ankommen, in die Gesellschaft eingliedern wird? Diese Frage muss beantwortet werden.

Mit der Historikerin sprach Katrin Richter.

Mehr Informationen zu dem Projekt »Die andere Herkunft« finden Sie hier:
www.dieandereherkunft.wordpress.com
www.facebook.com/dieandereherkunft

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