Seit Tagen eskaliert die Gewalt im Osten und Süden der Ukraine. In den Regionen Donezk und Lugansk sind seit Anfang der Unruhen Mitte April mehr als 40 Menschen getötet worden – aufseiten der ukrainischen Armee und bei den Separatisten, die eine Abspaltung von der Ukraine anstreben.
In der Hafenstadt Odessa haben gewaltsame Zusammenstöße von pro-ukrainischen und pro-russischen Kräften am Freitag 46 Menschen das Leben gekostet.
Die Polizei griff nicht ein, als sich Fußballfans der befreundeten Mannschaften Tschornomorez Odessa und Metallist Charkiw zu einem »Marsch der Einheit« im Stadtzentrum versammelten und von maskierten, bewaffneten Männern angegriffen wurden. Die Polizisten schritten auch nicht ein, als Radikale Zelte vor dem Gewerkschaftshaus anzündeten und danach das fünfstöckige Gebäude mit Molotowcocktails in Brand steckten, wobei 38 Menschen umkamen.
Auswandern Über die zunehmende Gewalt und die Untätigkeit der Polizei sind viele Menschen beunruhigt. Manche denken darüber nach, auszuwandern. Josef Zissels, der Vorsitzende der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden der Ukraine (Vaad) sowie Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, sagt, rund 2500 Juden bereiteten sich derzeit auf die Ausreise nach Israel vor.
»Viele fragen sich: Kann ich meinen Geschäftspartner denn morgen noch besuchen oder meine Angehörigen, die in anderen Teilen der Ukraine wohnen?«, sagt Zissels. Die Annexion der Krim mache vielen Angst. Sie seien besorgt, dass die Bedrohung weiter wächst.
Beide Seiten, die ukrainische und die russische, werfen sich gegenseitig vor, für den Ausbruch der Gewalt verantwortlich zu sein. Kiews Interimspräsident Alexander Turtschinow sagte im ukrainischen Fernsehen: »Die ganze Welt weiß, dass Russland hinter den Unruhen in der Ukraine steht.«
Der Kreml und die russischen Staatsmedien zeichnen seit Monaten ein Bild, wonach in der Ukraine westliche Agenten, ukrainische Nationalisten und die Extremisten des Rechten Sektors erst einen Putsch in Kiew angezettelt haben und nun den Osten der Ukraine »unterjochen«.
Während der Maidan-Proteste im vergangenen Winter in Kiew machte Moskau vor allem die Anhänger der nationalistischen Swoboda-Partei für den Sturz der Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch verantwortlich. Seitdem das Parlament in Kiew Ende Februar eine Übergangsregierung eingesetzt hat, rückt der Rechte Sektor immer stärker ins Blickfeld der russischen Medien. Dessen Anführer Dmitri Jarosch hat sich inzwischen auch für die Präsidentschaftswahl am 25. Mai aufstellen lassen. Obwohl er bei Umfragen keine zwei Prozent erhält, dienen er und seine Gruppierung als Drohkulisse.
Mythos »Der Rechte Sektor ist eine Kunstfigur, ein Mythos«, sagt Kiews Oberrabbiner Yaakov Bleich, der ebenfalls Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses ist. Für ihn sind weder Jarosch noch die Gruppe, der er vorsteht, eine Partei oder gar eine Gefahr. Es habe sogar ein Treffen Jaroschs mit dem israelischen Botschafter in der Ukraine, Reuven Din El, gegeben. Jarosch habe den jüdischen Gemeinden seine Hilfe angeboten – doch es blieb beim Angebot.
Etwas Ähnliches ereignete sich in Odessa: Dort traf Anfang April Oberrabbiner Abraham Wolff mit Vertretern des Rechten Sektors zusammen. Kurz zuvor hatten Unbekannte antisemitische Sprüche an die Mauern des jüdischen Friedhofs geschmiert. Die Männer vom Rechten Sektor entfernten die Hassparolen. Doch auch in Odessa hat es keine weitere Zusammenarbeit mit ihnen gegeben. Dass sie derzeit eine Gefahr für die Ukraine darstellen, glaubt auch Josef Zissels nicht. Vielmehr, sagt er, seien die Menschen beunruhigt über die anhaltende Gewalt.
Anschläge So sorgen erstmals seit den 90er-Jahren wieder Anschläge auf Politiker für Ängste. Vergangene Woche schossen Unbekannte auf den Charkiwer Bürgermeister Gennadi Kernes, als er an einer Fernstraße entlang joggte. Der 54-Jährige wurde lebensgefährlich verletzt und am folgenden Tag zur medizinischen Behandlung in eine Privatklinik nach Israel ausgeflogen.
Zissels sieht hinter dem Attentat auf Kernes allerdings kein antisemitisches Motiv. Kernes war 2010 auf dem Parteiticket des damaligen Präsidenten Janukowitsch zum Bürgermeister der zweitgrößten ukrainischen Stadt gewählt worden. Während der Maidan-Proteste ließ Kernes in Charkiw pro-europäische Kundgebungen zu. Bis heute ist Charkiw ein Zentrum, das Kiew politisch nähersteht als irgendeine andere Stadt in der Ost-Ukraine.
Anatoli Schengait, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Kiew, hält es für möglich, »dass die politischen Gegner Gennadi Kernes seinen Eigensinn nicht nachsehen und ein Zeichen zur Abschreckung für andere setzen wollten«.