»Es begann am selben Tag«, sagt Lisa Hazan. In größter Sorge und Angst um Freunde in Israel postete die Pariser Literatur-Studentin am 7. Oktober 2023 eine Story mit deren Fotos auf Instagram. »Wer weiß etwas?«, schrieb sie dazu. Und erntete einen Shitstorm. »Schämst du dich nicht, Israelis zu zeigen?«, »Geschieht den Israelis recht«, »Hör auf mit deiner Propaganda«, »Die Hamas hat nichts mit Terror zu tun, wenn du sie verurteilst, bist du eine Heuchlerin«, »Die Politiker unterstützen Israel nur, weil die Hamas Muslime sind, und der Jude in Frankreich war immer eine privilegierte Minderheit«, so die Kommentare von Kommilitonen, die Hazan bis dahin für gute Bekannte gehalten hatte.
Die junge Frau sitzt in einem Café im Studenten- und Intellektuellen-Viertel Saint-Germain-des-Prés, gleich beim Jardin du Luxembourg. In Paris zu leben und zu studieren, war schon immer Lisa Hazans Traum gewesen. 2016 hatten ihre Eltern mit den Kindern Alija gemacht. Lisa kehrte nach Schule und Wehrdienst in der israelischen Armee nach Frankreich zurück. Jetzt hat die Studentin und sefardische Jüdin mit 22 Jahren ihr erstes Buch veröffentlicht. In Shabbat Noir (Schwarzer Schabbat) erzählt sie davon, wie sie den 7. Oktober 2023 in Paris erlebte und wie sich ihr Leben seitdem verändert hat.
»Wie kann man sich über den Tod eines Juden freuen?«
»Deine Familie verdient es zu sterben«, bekam eine jüdische Freundin von einem Mitstudenten zu hören, berichtet Hazan weiter. Und das von Leuten, die wie sie Literatur studieren, die sehr kultiviert seien, mit denen sie viele Ideen geteilt hätten, gemeinsam auf Demonstrationen gegangen seien. »Wir kannten antisemitische Klischees und Witze, die hat es immer gegeben. Aber nicht diesen Hass: dass man sich über den Tod eines Juden freuen kann, dass das, was uns vernichtet, den Mitstudenten Freude macht.«
In den folgenden Monaten musste sie zudem entdecken, dass Kommilitonen Listen mit den Namen jüdischer Studenten anlegten und an der Uni verbreiteten. Jüdische Studenten wurden aus linken Aktionsgruppen ausgeschlossen, in denen sie sich für mehr soziale Gerechtigkeit engagiert hatten – und auch für Frieden in Nahost und die Rechte der Palästinenser. Andere Gruppen-Mitglieder sollten sie schneiden, so die Anweisung militanter Aktivisten.
Schließlich stand eines Tages an einer Mauer ihrer Universität zu lesen: »Die Zionisten sind die neuen Nazis« und »Juden raus aus unserer Fakultät«. Sie habe von einer 33-jährigen Frau gehört, die gerade umgezogen sei in eine Wohnung mit Keller, um sich dort im Notfall verstecken zu können, erzählt Hazan. Sie komme aus einer Familie von Schoa-Überlebenden, und »sie hat Angst, dass es jetzt wieder beginnt.«
Sie komme aus einer Familie von Schoa-Überlebenden, und »sie hat Angst, dass es jetzt wieder beginnt.«
Bei Michèle (80) und Alain (86) im 17. Arrondissement, die ihren Nachnamen nicht verraten möchten, hängt die Mesusa nicht mehr neben der Eingangstür im Treppenhaus, sondern innen. »Wir wollen nicht, dass die Menschen wissen, dass wir Juden sind.« Eine Tochter habe Frankreich bereits nach den Attentaten von 2015 auf ein Konzert im Klub Bataclan und den koscheren Supermarkt »Hyper Cacher« verlassen. Die lebe nun mit ihren drei Kindern in Jerusalem.
Vor der jüdischen Schule, die ihre Enkel früher in Paris besuchten, habe bei Unterrichtsschluss gerade einmal ein Polizeiauto mit zwei Polizisten Wache gehalten, sagt Michèle. Die Eltern hätten sich selbst um die Sicherheit der Kinder kümmern müssen. »Wir wären auch gegangen, wenn wir jünger wären«, sagt sie. Michèle und ihr Mann hatten in jungen Jahren bereits Algerien verlassen müssen, wo sie geboren wurden, als das Land noch zu Frankreich gehörte. »Frankreich hat uns nie beschützt.«
Die jüdische Gemeinschaft der nordfranzösischen Hafenstadt Rouen zählt rund 200 Familien. Seit einem Brandanschlag auf ihre Synagoge am 17. Mai können sich die Mitglieder darin nicht mehr zum Gottesdienst versammeln. Das Feuer und die Hitze haben den großen Saal verwüstet, die Wände geschwärzt, den Putz an der Decke aufgesprengt. Die Gemeindevorsitzende Natacha Benhaim zeigt auf die verkohlten Reste der Holzvertäfelung des Toraschreins. »Sogar hier in Frankreich kommen sie uns holen«, habe es in der Gemeinde geheißen. Jeder frage sich jetzt, ob er als Jude erkannt und irgendwann angegriffen werde.
So wie Natacha Benhaims 19-jähriger Sohn. Ein 46-jähriger Franzose habe Nathans Davidstern gesehen und ihn daraufhin als »dreckigen Juden« beschimpft. Die Schoa habe nicht ganze Arbeit geleistet, man müsse weitermachen, es seien noch Juden zu töten. Ihr Sohn und seine Freunde hätten den Mann überwältigen und Anzeige erstatten können, sagt Benhaim. Als der Überfall in der Schule bekannt wurde, klebten Mitschüler ihm hinter seinem Rücken Palästinenserfahnen-Sticker auf die Schultasche.
»Mein Sohn fühlt sich sicherer in Israel, wo Krieg herrscht, als in Frankreich«, sagt Natacha Benhaim.
Auch Rabbi Chmouel Lubecki hört in seiner Gemeinde in Rouen seit dem Brandanschlag viele Fragen besorgter Mitglieder: Begehen wir nicht vielleicht den gleichen Irrtum wie unsere Eltern 1939, als sie nicht fortgehen wollten? Viele Familien mit jungen Kindern würden
in naher Zukunft Alija machen wollen, so der Rabbi. Auch der Sohn seiner Kollegin Natacha Benhaim. Nathan wolle zum Wehrdienst nach Israel gehen und sich am liebsten gleich verpflichten. »Am 18. November reist er ab«, sagt die Mutter. »Mein Sohn fühlt sich sicherer in Israel, wo Krieg herrscht, als in Frankreich.«
Mindestens 800 französische Juden sind seit dem 7. Oktober 2023 nach Israel ausgewandert, 6440 Personen hätten ein dafür nötiges Dossier eröffnet, zitiert das französische Innenministerium den Service de Protection de la Communauté Juive, den Dienst zum Schutz der jüdischen Gemeinschaft. 887 antisemitische Übergriffe sind im ersten Halbjahr 2024 nach Angaben des Ministeriums gemeldet worden. Fast dreimal so viele wie im Vergleichszeitraum des Vorjahres. »Der Antisemitismus, der immer existiert hat, versteckt sich nicht mehr«, sagte der damalige Innenminister Gérald Darmanin bei Veröffentlichung der Zahlen im Sommer dieses Jahres.
Natacha Benhaim sieht in Jean-Luc Mélenchon und seiner linksextremen Partei La France Insoumise (LFI/Unbeugsames Frankreich) die Hauptverantwortlichen für die Explosion antisemitischer Hetze und von Übergriffen nach dem 7. Oktober. Mélenchons Partei habe die Zungen der Menschen gelöst, die schon vorher im tiefsten Inneren Antisemiten gewesen seien. »Das ist eine Katastrophe.«
Antisemitismus als Wahltaktik
Mit ihren antisemitischen Anspielungen und anti-israelischen Aktionen sind Mélenchon und seine Mitstreiter, wie die Europaabgeordnete Rima Hassan, für viele Juden in Frankreich zum roten Tuch geworden. Gerade erst gab es wieder einen Grund: Zwei Tage vor dem Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel, bei dem 1200 Menschen massakriert, etwa 5400 verletzt und 250 verschleppt wurden, rief der LFI-Gründer dazu auf, ab dem 8. Oktober an allen Universitäten die Palästinenserflagge zu hissen und am besten die libanesische gleich mit.
Lisa Hazan sieht im Antisemitismus von LFI Wahltaktik. Und tatsächlich fährt Mélenchons Partei in Vorstädten mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil die besten Ergebnisse ein.
Michèle und Alain werfen auch den französischen Medien einseitige pro-palästinensische und anti-israelische Berichterstattung vor. Jeden Abend bringe das Fernsehen Opferzahlen aus dem Gazastreifen oder dem Libanon, zeige Bilder verletzter Frauen und Kinder. Nie werde über die Toten und Verletzten Israels berichtet. Niemand informiere darüber, warum die Hisbollah mit ihren Angriffen auf Israel aus dem Libanon heraus überhaupt beginnen konnte; warum die UN-Friedenstruppen, die vor allem von muslimischen Ländern gestellt würden, das nicht verhindert hätten.
Von ihrem Präsidenten Emmanuel Macron fühlten sich viele Juden in Frankreich verraten und im Stich gelassen. »Die ganze jüdische Gemeinschaft im Land ist wütend«, sagt Natacha Benhaim. Vor allem nach Macrons jüngster Mahnung an Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, doch nicht zu vergessen, dass Israel seine Existenz einer UN-Resolution zu verdanken habe. »Er kennt nicht einmal die Geschichte!«
Frieden könne es nur geben, wenn die Libanesen sich nicht mehr mit der Terrormiliz Hisbollah und die Palästinenser sich nicht mehr mit den Terroristen der Hamas solidarisierten, sagt Natacha Benhaim. Das dächten die meisten Juden. Aber Israel könne nicht damit aufhören, sich zur Wehr zu setzen. »Denn wenn Israel aufhört, sich zu verteidigen, dann wird es kein Israel mehr geben.«