Brigitte Stora wirkt wie eine Grande Dame: eine aparte Erscheinung, die sich ihrer Ausstrahlung bewusst ist. Ihr dunkles Haar fällt wild um den Kopf, ihr Blick ist verträumt, doch rasch schwenkt er in Aufmerksamkeit um. Stora ist für eine Lesung gekommen. Sie stellt ihr jüngstes Buch vor, das 2016 bei Le Bord de l’Eau erschienen ist und noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Der Titel: Que sont mes amis devenus ... Les Juifs, Charlie, puis tous les nôtres (Was ist aus meinen Freunden geworden ... Die Juden, Charlie und all die unseren).
Die 1960 in Algier geborene Schriftstellerin und Chansonsängerin schrieb das Buch nach dem Terroranschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo. »Es war eine Art Kummer, der das Schreiben auslöste«, sagt Stora, die in tagebuchähnlichen Einträgen über die antisemitischen Anschläge in Frankreich in den vergangenen Jahren berichtet und versucht, zu verstehen, wie sich der Wind wieder gegen Juden drehte.
68er Stora, die in Paris lebt, sich seit jeher als Internationalistin verstand und in den 70er- und 80er-Jahren für ein Ende des Kolonialismus und in der Frauenbewegung kämpfte, wirkt melancholisch, wenn sie zurückblickt. »Die Vorstellung eines universellen Zugangs existierte: für Pluralismus, in dem der Einzelne seinen Platz hat. Es gab natürlich immer wieder Diskussionen über Israel, aber es war nichts Schlimmes. Und unter den 68ern waren viele Juden. Bis vor einigen Jahren konnte ich in Frankreich noch jüdisch und zugleich extrem links sein«, erzählt die damals in einer trotzkistischen Organisation Aktive.
Heute sei das anders. »Während der zweiten Intifada ist etwas passiert«, stellt Stora fest. Die Solidaritätsbewegungen der Linken von einst mit der Solidarnosc in Polen, dem Engagement gegen die Apartheid und für Nicaragua ist einer fragwürdigen Obsession gewichen. Ihr einziger Kampf scheint heute der für Palästina zu sein.
Anfang 2000 erlebte Stora, wie auf Demonstrationen Banner mit der Forderung »Tod den Juden!« entrollt wurden. Das gesellschaftliche Klima in Frankreich sei umgeschlagen, sagt sie. Langjährige Weggefährten hätten sich abgewandt.
israel Der Trend, den Staat Israel anzuprangern, habe auch vor den großen Zeitungen nicht haltgemacht, sagt Stora. Selbst in Le Monde bemerke sie seit 2002 eine Tendenz, »für Kommentare denjenigen das Wort zu erteilen, die den Namen ›Israel‹ regelrecht ›auskotzen‹ wollen«. Leitartikel erschienen, in denen Israel als »Krebsgeschwür« bezeichnet wurde. Der bei dem Terroranschlag 2015 ermordete Comiczeichner Stéphane Charbonnier aus der Redaktion von Charlie Hebdo sei einer der wenigen gewesen, die beharrlich diesem neuen Diskurs getrotzt hätten.
Die französische Linke sei heute empfänglich für islamistische Ideologie, sagt Stora. »Die Propaganda wirkt. Die Arbeit etwa des Schweizer Islamwissenschaftlers Tariq Ramadan ist eine Katastrophe. Leuten wie ihm wird im Fernsehen eine Plattform geboten, sie reden gut und sprechen die Menschen an.« Natürlich würden Muslime diskriminiert. Aber »damit, dass wir den Begriff ›Islamophobie‹ akzeptiert haben, sind wir in eine Falle getappt«. Dieser inflationär benutzte Begriff leiste anderen Diskriminierungen Vorschub. Stora glaubt, dass die Redaktionsmitglieder von Charlie Hebdo umgebracht wurden, weil sie dieses Amalgam ablehnten. Man müsse nur lesen, was sie in den letzten Jahren geschrieben haben.
Sie habe sich früher schwer damit getan, als sefardische Jüdin in Frankreich aufzuwachsen, sagt Stora. Heute stelle sie ihre jüdische Identität nicht mehr infrage. Und je mehr ihre Kinder angefeindet werden, desto stärker bekennen auch sie sich zum Judentum. Besonders der Antisemitismus ihnen gegenüber macht Stora zu schaffen.
Antisemitismus In der Schule wurden sie belehrt, dass nicht sechs Millionen Juden vergast wurden, sondern »nur« fünf. Schulkameraden ihres Sohnes wechseln die Straßenseite, wenn sie ihm begegnen. »Die Erfahrungen meines Sohnes haben mich tief getroffen«, berichtet Stora. Sie erhalte viele Briefe von Menschen, die Ähnliches erlebt haben. »Alle Juden in Frankreich können solche Geschichten erzählen.« Manche wollten deswegen nach Israel auswandern.
Israel sei Teil ihrer Identität, sagt Stora. »Es ist evident, dass der Staat eine Option für Juden ist. Auch deshalb erlaube ich mir, seine Regierung zu kritisieren, die ich rechts finde und verurteile.«
In ihrem Buch vergleicht die Feministin Israel mit dem weiblichen Geschlecht. Inmitten arabischer Staaten sei die bloße Existenz des Staates schon eine Provokation. Darauf angesprochen, muss sie lachen. Das sei ihre kühne Seite. So wie sie Chansons liebt und überall poetische Lieder herauslese und einflechte. »Ich habe mich in den Kopf einer Freundin versetzt und beim Blick auf die Karte Israels an ein Lied von Léo Ferré denken müssen: »Diese Wunde«! Letztlich könne man am islamistischen Diskurs diesen tiefen Hass auf Juden wie auf Frauen erkennen.
Die mangelnde Solidarität der radikalen Linken mit Juden trifft Stora. »Sie sind sich nicht zu schade, sich mit Islamisten zu zeigen, aber mit CRIF, dem französischen Dachverband der Juden, wollen sie sich nicht sehen lassen.«
Gibt es keine Solidarität innerhalb der französischen Linken mit der jüdischen Gemeinschaft? »In der Linken schon. Aber in der radikalen Linken warten wir noch immer darauf.«
Auch wenn sie traurig über die fehlende Solidarität ist, fühlt sie sich politisch noch immer als Linke. »Ich glaube fest daran, dass es Alternativen gibt, Wege aus den Ungleichheiten. Es sind die anderen, die die Sache verraten und Allianzen geschlossen haben, die in den Forderungen mündeten: Lasst die Frauen, die Juden und andere fallen!«
Gegen ihre Resignation kämpft Stora auch mit dem Singen an. Chansons spiegeln oft ihr Innerstes wider. Sie sind für sie ein Weg, der Melancholie zu trotzen.