Das Herz der jüdischen Gemeinde von Kosice schlägt gut versteckt in einem Hinterhof. Ein großes Gitter hütet den Einlass, kein Schild kündet davon, dass hier die einst einflussreichste Gemeinde weit und breit residiert. Der Asphalt ist bröckelig, die Fassaden wirken verwittert, aber wer eintritt, wird mit jedem Schritt stärker umfangen von der besonderen Atmosphäre. Eine kleine Freitreppe an der Fassade führt hinauf in die koschere Cafeteria, hinter einer versteckten Tür um die Ecke geht es zu den Büros, und so taucht Stück für Stück ein verborgener Kosmos auf.
Es sind gerade einmal 251 Juden, die noch zur Gemeinde von Kosice zählen. Die glorreichen Zeiten sind vorbei – für die jüdische Gemeinde, die einst drei mächtige Synagogen in der Innenstadt besaß und zu der jeder fünfte Bewohner der Gegend gehörte, aber auch für Kosice selbst.
handelswege In der Habsburger Monarchie begann der Aufstieg der Stadt, durch die viele Handelswege führten. Sie liefen von Wien und Prag, den beiden reichen Städte im Westen des ausgedehnten Reiches, in die östlichen Provinzen und schnitten dabei Kosice. Viele Kaufleute kamen zu Wohlstand, und der Stadt mit ihren Barock- und Renaissancefassaden rund um den Hauptplatz ist das bis heute anzusehen.
Jüdische Kaufleute mit ihren Familien ließen sich deshalb hier nieder. Als der Kaiser ihnen 1867 endgültig die Bürgerrechte gewährte, trugen sie zur Blüte der ostslowakischen Städte bei. Wie bürgerlich-aufgeschlossen hier einst die Atmosphäre war, hat Sándor Márai (1900–1989) in seiner Autobiografie festgehalten. Der ungarische Schriftsteller kam hier in Kosice zur Welt, seine Familie zählte zu den angesehensten der Stadt.
Die einst bevorzugte Lage auf dem Weg in den Osten hat Kosice inzwischen allerdings zum Außenposten gemacht – ein paar Kilometer entfernt von hier verläuft die Grenze zur Ukraine, dort endet auch die Europäische Union. Wer in der Slowakei etwas werden will, verlässt Kosice und zieht in den wohlhabenden Speckgürtel um die Hauptstadt Bratislava; der Osten ist von Arbeitslosigkeit beherrscht.
macher Dass ausgerechnet Kosice jetzt zur Europäischen Kulturhauptstadt geworden ist, versteht die Stadt als Signal. Sie will zeigen, was sie zu bieten hat, sie will sich selbst aus der Misere herausarbeiten. Dafür haben sich die Macher der Kulturhauptstadt auch an die Juden erinnert: Ihr kulturelles Erbe taucht, wenn auch eher schemenhaft umrissen, in einer eigenen Sektion des Jahresprogramms auf.
»Eine jüdische Stadt ist Kosice schon lange nicht mehr«, brummt Pavol Sitar. Er hat sich hinter seinem wuchtigen Schreibtisch verschanzt, es ist ein antikes Möbel, hinter dem er bis zur Brust verschwindet. »Unsere Mitgliederzahl nimmt laufend ab. Es gibt einfach zu wenige Arbeitsmöglichkeiten hier in der Gegend. Die Jungen gehen weg, die Alten sterben, so ist das. Und wir haben eine gewaltige Assimilation: Die Ehen, die hier geschlossen werden, sind selten jüdisch.«
Pavol Sitar ist Vorsitzender der Gemeinde, im Hauptberuf arbeitet er als Anwalt. Über die Gemeinde erzählt er Außenstehenden nur selten etwas; die meisten Juden hier bevorzugen es, still in ihrer Nische zu bleiben.
Ukraine An der Gemeinde indes lässt sich die Geschichte der ganzen Region ablesen. Die meisten der rund 12.000 Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts hier lebten, hatten ihre Wurzeln in Ungarn und waren eher liberal. Zu ihnen gesellten sich einige orthodoxe Juden aus dem Osten, dem Gebiet der heutigen Ukraine. So bunt war in Kosice die ganze Stadt gemischt. Gerade hier liefen etliche Strömungen der Vielvölker-Monarchie zusammen: Es gab Deutsche, Ungarn, Slowaken; sie waren Katholiken – nach römischem oder griechischem Ritus – und Juden. In der Luft lag ein Gewirr aus unzähligen Sprachen und Dialekten.
An diese Zeit knüpft die jüdische Gemeinde jetzt wieder an: Sie hat sich im vergangenen Jahr nach längerer Vakanz einen neuen Rabbiner gesucht. Er gehört zur gut ausgebildeten jungen Generation und reist für den Schabbat jede Woche aus Budapest an. »Die meisten Mitglieder verstehen Ungarisch, aber der Rabbi lernt auch Slowakisch«, sagt Pavol Sitar. Die Sprache ist ihm wichtig, denn schließlich geht es um geschliffene Reden. »Wenn der Rabbiner der Gemeinde etwas gibt, wenn die Leute bereichert nach Hause gehen, dann lockt das Interessenten an«, hofft Sitar. Immerhin gebe es noch eine ganze Reihe von Leuten in Kosice, die jüdische Vorfahren hätten, aber die Verbindung zum Judentum gekappt haben. Vielleicht finden sie eines Tages den Weg zurück – für die Gemeinde wäre das ein Segen.
Stuck Bis es so weit ist, ziehen in der alten Synagoge vor allem Kulturveranstaltungen das Publikum an: Vernissagen finden hier statt und Lesungen. Die junge Kunst bildet einen Kontrast zu den nackten Wänden mit dem abblätternden Stuck. Nicht einmal der Bodenbelag ist intakt, Bauarbeiter haben als Provisorium feinen Kies ausgebracht, der unter jedem Schritt knirscht.
Die größte und prächtigste der Kosicer Synagogen ist in kommunistischen Zeiten zur städtischen Philharmonie umgebaut worden, bis heute spielt hier das Orchester. Nur Kulisse sind die Bethäuser noch, Denkmäler für das Judentum, das einst die Stadt mitgeprägt hat. Der Gemeinde reicht für ihre Zwecke die alte orthodoxe Synagoge aus, die als einzige bis heute in Betrieb ist.
Eine Reise auf den Spuren des Judentums in der Ostslowakei ist immer auch ein Eintauchen in die Vergangenheit. Das weiß Zora Mihokova sehr gut; die Historikerin arbeitet in Presov, 30 Kilometer nördlich von Kosice. Auch in Presov gibt es eine jüdische Gemeinde, auch hier sind die Überbleibsel aus der vergangenen Zeit weitaus strahlender als die Gegenwart. Zum Beispiel in der alten orthodoxen Synagoge der Stadt: »Schauen Sie sich nur die Dimensionen an«, schwärmt Mihokova, die interessierte Besucher durch das riesige Bethaus führt: »Der Raum ist zwölf Meter hoch, und vom Aron Hakodesch bis zum Haupteingang sind es 32 Meter!«
Spuren Das Bauwerk ist ein stolzes Monument, es kündet von Selbstbewusstsein: Gelb gestrichen ist die Fassade, die mit ihren maurischen Ornamenten stolz inmitten der Altstadt und der alten Bürgerhäuser aufragt. Zora Mihokova packt jedes Mal die Begeisterung, wenn sie durch die Synagoge läuft: »Es ist die prachtvollste in der Slowakei und zusammen mit den Synagogen in Prag und Budapest sicherlich die schönste in ganz Mitteleuropa«, sagt sie begeistert.
Heute reicht das einstige Vorzimmer der Synagoge für die Gottesdienste; zur Gemeinde von Presov zählen nur noch knapp 60 Mitglieder. Ihre Synagoge zeigen sie gern, aber etwas über ihr Leben erzählen oder gar Interviews geben – das möchten sie nicht.
Zukunft Über die Zukunft machen sie sich hier alle Gedanken, Zora Mihokova ebenso wie Pavol Sitar. Der Gemeindevorsitzende von Kosice fängt hinter seinem mächtigen Schreibtisch an, laut zu grübeln. Er nennt es den »deutschen Weg«, was ihm seit einiger Zeit durch den Kopf gehe: »In der Ukraine leben mehr als 600.000 Juden, die meisten von ihnen unter sehr schlechten Bedingungen«, sagt er. Wäre nicht allen geholfen, wenn man sie in die Slowakei einwandern ließe?
Probleme mit der Integration fürchtet er nicht. Erstens habe die Vielfalt hier im Kernland der alten k.u.k. Monarchie ohnehin Tradition, und zweitens seien die Unterschiede minimal. »Es gibt in der Ukraine schließlich Landstriche, die zur Habsburger Monarchie gehört haben wie wir, in der Gegend der Karpaten etwa. Die Menschen dort haben die gleichen Wurzeln wie wir – uns trennen ja nur zwei Generationen.« Aber dann wischt Sitar den Gedanken mit einer Handbewegung wieder fort. Er allein könne ohnehin nichts ausrichten, das sei ein großes politisches Projekt.
Ein bisschen träumen aber kann er jetzt wieder, wo Kosice Kulturhauptstadt geworden ist. Ein Jahr lang werden sie kommen, die Neugierigen aus ganz Europa, und sie werden auf ihrem Streifzug durch die Stadt auch in der alten Synagoge Station machen. So wird sie, die nur ein paar Schritte entfernt steht vom Hauptplatz in Kosice, wieder zum Mittelpunkt der Stadt – fast so, wie sie es früher einmal war.