In seiner Kanzlei im Londoner Bezirk Whitechapel erzählt der in Oxford lebende Rechtsanwalt Felix Couchman von einer ganz besonderen Gruppe von Briten, die sich im vergangenen Jahr zusammengefunden hat. Denn sie alle sind deutsch-jüdischer Herkunft und beabsichtigen, so wie der Mittfünfziger Couchman, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen. Er habe schon länger darüber nachgedacht, berichtet er. Aber der Brexit habe dann den Ausschlag gegeben.
Außer ihm wollen ebenso seine zwei Kinder sowie sein Bruder und dessen Kinder Deutsche werden. Das sollte kein Problem sein – schließlich war ihr Großvater Fritz Beckhardt im Ersten Weltkrieg ein deutsch-jüdischer Held. Weil er für den Kaiser als Kampfpilot zahlreiche feindliche Flugzeuge vom Himmel geholt hatte, erhielt Beckhardt sogar das Eiserne Kreuz. »Zu seinen Bewunderern und Freunden gehörte unter anderem Hermann Göring«, erzählt Couchman. »Das sollte meinem Großvater und seiner Familie später das Leben retten.« Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Beckhardt sogar nach Deutschland zurück.
Viele Juden fühlen sich mit Deutschland eng verbunden.
Adoption Dennoch zögert Couchman noch. Zu oft hatte er von Fällen aus der Gruppe gehört, die ihm als Anwalt, der oft mit den deutschen Gesetzen zur Staatsbürgerschaft zu tun hat, vollkommen ungerecht erscheinen. Da ist zum Beispiel der Antrag der 62-jährigen Jacqueline Boronow Danson, der allein deshalb abgelehnt wurde, weil sie als Säugling von zwei deutschen Schoa-Überlebenden adoptiert wurde.
Denn laut dem deutschen Staatsbürgerschaftsrecht ist eine Übertragung der Staatsbürgerschaft auf adoptierte Kinder aus diesem Jahrgang nicht möglich. Doch es gibt noch mehr solcher Fälle. »Dazu zählt die Geschichte von Marlene Rolfe, einer 72-jährigen Londoner Künstlerin, deren deutsch-jüdische Mutter Ilse Rolfe, geborene Gostynski, 1936 wegen des Verteilens von kommunistischen Flugblättern erst ins Gefängnis, dann in das KZ Ravensbrück kam.« Als sie 1939 freikam, warnte man Rolfe, Deutschland entweder zu verlassen oder die Konsequenzen hinzunehmen.
Flucht Ilse Rolfe floh nach Großbritannien. Und wie allen anderen im Ausland lebenden jüdischen Deutschen entzogen die Nationalsozialisten auch ihr im November 1941 die deutsche Staatsbürgerschaft. Die übrigen Familienmitglieder wurden ermordet. »Nur meine Tante Else, die Zwillingsschwester meiner Mutter, entkam den Nazis trotz angeborener körperlicher Behinderungen über Norwegen«, erzählt Tochter Marlene. Sie selbst kam im Januar 1946 in England zur Welt. Ihren englischen Vater hatte die Mutter im Vorjahr geheiratet.
Nicht wenige befürchten, dass nach dem Brext schwieriger wird, einen deutschen Pass zu beantragen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm ihre Mutter die kleine Marlene in den Ferien oft mit nach Deutschland. »Sie hatte der alten Heimat nie ganz den Rücken gekehrt und verstand sich stets als Berlinerin«, so Marlene Rolfe. 1975 beantragte ihre Mutter von London aus sogar die Wiedereinbürgerung. Als ihre Mutter 1992 schwer erkrankte, begann sie selbst eine Reise in die Vergangenheit und erforschte die Geschichte ihrer Familie in Deutschland. Daraus entwickelten sich zahlreiche Freundschaften. »Entgegen allem, was man sagt, sind es gerade Ostdeutsche, die zu meinen engsten Vertrauten geworden sind.«
Brexit Seit dem Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union möchte Marlene es ihrer Mutter gleichtun und hat nun ebenfalls die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Sie befürchtet, dass das nach dem Brexit schwieriger werden könnte. Außerdem fühlt sie sich mit Deutschland eng verbunden.
Der Brexit ließ die Zahl der Briten, die einen anderen EU-Pass haben wollen, sprunghaft in die Höhe schnellen. Viele von ihnen möchten die Anbindung an eine vielleicht größere Welt nicht verlieren oder sehen in diesem Schritt die Möglichkeit, eine europäische Identität zu bewahren. Für Menschen mit deutsch-jüdischen Wurzeln wie Marlene Rolfe oder Felix Couchman ist es aber noch viel mehr, und zwar die späte Heimkehr nach Jahrzehnten einer komplizierten Beziehung mit Deutschland.
Grundgesetz Laut Artikel 116, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes gelten auch jene als Deutsche, denen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde. Das bezieht sich gleichfalls auf deren Nachfahren. Sie alle können selbstverständlich einen Antrag auf Wiedereinbürgerung stellen. Genau das tat dann Marlene Rolfe auch Ende August 2017. Seither wartet sie auf das Ergebnis.
Doch gibt es einige Fallstricke. So darf das relevante Familienmitglied nicht auf anderem Wege sein Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft verloren haben – beispielsweise, wenn die Mutter einen Ausländer heiratete. Denn bei Kindern, die vor dem 1. April 1953 geboren wurden, gilt nämlich noch Paragraf 17, Absatz 6 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes.
Dieser besagt, dass die Staatsangehörigkeit der Ehefrau bis dato stets der des Ehegatten folgte – es sei denn, das Kind wurde unehelich geboren. Rolfe wurde also im falschen Jahr geboren und hatte zudem den »falschen« Vater. Ihre Mutter wurde vom deutschen Staat vergessen, weil sie eine Frau war – und das trotz aller Gesetze zum Thema Gleichstellung von Mann und Frau in Deutschland. Genau dieser Aspekt ist bis dato unter den Tisch gefallen.
Die Nachkommen deutsch-jüdischer Flüchtlinge, deren Familienmitglieder in den meisten Fällen ermordet wurden, werden oft abgewiesen.
Recherche Ähnlich sieht es bei der in Edinburgh lebenden Autorin Eleanor Thom aus. Die 39-Jährige hatte gemeinsam mit ihrer Mutter Betsy, 75, sowie ihrem Cousin im vergangenen Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. »Wir fühlen eine enge Verbindung zu jungen Deutschen«, erzählt Thom, die mehrere Jahre in Berlin gelebt hat, wo sie für ihre Doktorarbeit in Literatur umfangreiche Recherchen zu ihrer Großmutter vornahm. »In meiner Familie sprechen oder lernen viele Deutsch. Aber nicht nur die Sprache ist uns sehr vertraut«, betont sie.
Dora Tannenbaum, Eleanors inzwischen verstorbene Großmutter, kam 1916 in Berlin auf die Welt. Sie rettete sich 1939 nach England, wo sie als Zimmermädchen arbeitete. Viele aus ihrer Familie wurden in Auschwitz ermordet, auch Doras 1937 geborene erste Tochter. Sie hatte kein Visum für Großbritannien erhalten.
Dora Tannenbaum aber lebte fortan in Schottland, wo sie 1942 Duncan Wilson heiratete. Ein Jahr später wurde dann ihre zweite Tochter Betsy geboren. Deutschland aber hatte Dora Tannenbaum bis an ihr Lebensende nie wieder betreten. »Meine Großmutter hat sich trotzdem immer als Deutsche gesehen«, weiß Eleanor Thom zu berichten.
Geburt Eleanor Thom erhielt vor zwei Monaten eine Antwort des Bundesverwaltungsamtes aus Köln. Weil die Großmutter eine Frau war und ihre Tochter Betsy 1943 auf die Welt kam, hätten beide kein Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Eindruck, der dadurch entsteht, ist verheerend: Hatte man doch einfach nach Gesetzestext geurteilt, ohne Ansehen des Individualfalles, und das, während das gleiche Land erst wenige Jahre zuvor eine Politik der offenen Grenzen betrieb.
Die Nachkommen deutsch-jüdischer Flüchtlinge, deren Familienmitglieder in den meisten Fällen ermordet wurden, werden dagegen abgewiesen. Genau deswegen hatte sich Thom wie auch andere der Gruppe angeschlossen. Daher ihre Forderung: »Diese alte und vor allem Frauen diskriminierende Regelung gehört dringend abgeschafft.«
Überhaupt kann die deutsche Staatsangehörigkeit unabhängig davon, ob nun der Vater oder die Mutter Deutsche ist, erst seit dem 1. Januar 1975 beantragt werden. Bei Personen, die zwischen dem 31. März 1953 und vor dem 1. Januar 1975 geboren wurden und allein deren Mutter zum Geburtszeitpunkt Deutsche war, ist dies nachträglich erst durch eine besondere Klärung möglich.
Dienstmädchen Wer aber vor diesem Stichtag zur Welt kam, ist von dieser Regel ausgeschlossen. Sylvia Finzi ist ein weiteres Mitglied der Gruppe. Anders als der Rest führt die in London lebende Künstlerin das Gespräch mit ihr sogar auf Deutsch. 1948 in England geboren, lebte sie jahrelang in Deutschland sowohl in Berlin, wo sie heute eine Wohnung besitzt, als auch neun Jahre lang in München. Dort hatte sie an der Volkshochschule gearbeitet. Ihre jüdische Mutter, Elfriede »Friedel« Finzi, geborene Kastner, stammte aus Elberfeld, heute Wuppertal, und zog noch als Kind nach Berlin. »Meine Mutter entkam dem nationalsozialistischen Deutschland 1938 als Dienstmädchen in England.« Dort heiratete sie Sylvias Vater, den Mailänder Rechtsanwalt Giulio Finzi, einen jüdischen Flüchtling aus Italien, dessen gesamte Familie in Auschwitz ermordet wurde.
Manche alte Regel des Staatsbürgerschaftsrechts diskriminiert Frauen.
Trotz allem, was Deutsche ihren Eltern angetan hatten, erzählt Finzi, wie ihre Mutter ihr als Kind deutsche Lieder vorsang. »Obwohl sie mit mir im Alltag Englisch sprach, korrigierte sie immer wieder mein Schuldeutsch«, erinnert sie sich. Als sie entgegen dem Wunsch der Eltern 1970 nach Deutschland reiste, lernte sie dort ihren ersten deutschen Freund kennen – und blieb. »Auf Nachfrage sagten mir die Behörden, dass ich trotz meiner vielen Jahre in Deutschland kein Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft hätte. Aber das stimmt nicht! Was wohl ausschlaggebend war, ist die Tatsache, dass die Deutsche in der Familie meine Mutter war, sowie das Jahr meiner Geburt.«
Alte Regeln des Staatsbürgerschaftsrechts diskriminieren Frauen. Nachdem Finzi die Botschaft angeschrieben hatte, reagierte diese umgehend: Es sei »leider so, dass eheliche Kinder deutscher Mütter, die vor dem 1. April 1953 geboren sind, für eine Einbürgerung nach Artikel 116, Absatz 2 des Grundgesetzes nicht berücksichtigt werden können«, hieß es darin. »Ich könnte allerdings einen Antrag auf Ermessenseinbürgerung nach Paragraf 14 des Staatsangehörigkeitsgesetzes beantragen.«
Finzi sagt, dass sie das bereits ausgefüllte Antragsformular danach nie abgeschickt hat. »Ich frage mich heute, ob ich das nun überhaupt will, wenn es keine Selbstverständlichkeit ist, dass man mir die deutsche Staatsbürgerschaft gibt. Was wäre der Sinn der Sache?«
Interesse Seit dem 1. Januar 2000 gibt es ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz. Dieses besagt unter anderem, dass die Möglichkeit der Einbürgerung besteht, wenn ein öffentliches Interesse vorliegt. Dies könne der Fall bei Personen sein, »die vor dem 1. Januar 1975 als Kind einer deutschen Mutter und eines ausländischen Vaters ehelich geboren« wurden und deren Mutter die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen zwischen 1933 und 1945 entzogen wurde. Zur Anwendung des Paragrafen 14 gibt es die »Erlasswege«.
Doch erneut fallen bestimmte Geburtsjahre unter den Tisch. Wer vor der Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949 geboren wurde, kann keinen Antrag auf Basis der »Ermessenseinbürgerung« stellen – also auch Sylvia Finzi nicht.
Die Botschaft hatte inzwischen Felix Couchman mitgeteilt, dass man dennoch prüfe, ob der Paragraf 14 für einige Antragsteller nicht doch eine Option sein kann. Man plane daher ein baldiges Treffen mit Mitgliedern der Gruppe. Couchman sagt, dass solche Ausnahmeregelungen den meisten wohl nicht recht wären.
Vielmehr wünsche man sich eine Gesetzesänderung, die altes Unrecht ein für alle Mal aus der Welt schafft. Zudem hat Couchman den Eindruck, dass man ihn und die Gruppe nicht wirklich ernst nehme. »Manche Behörden taten so, als würden wir das alles nur wegen des Brexit machen und dass es nur um ein bisschen Papierkram geht. Für die meisten von uns ist es aber viel mehr, und das hat nicht nur mit unserer ganz persönlichen Geschichte zu tun, sondern auch mit der deutschen.« Genau deshalb ist für Couchman das Verhalten der deutschen Behörden vor allem eines: »Würdelos.«