Was bedeutet eigentlich der Begriff »Jude«? Handelt es sich hierbei um eine Ethnie, eine Religion oder eher um eine Kultur? Weist es auf eine Schicksalsgemeinschaft hin? Und wer bestimmt überhaupt, was es bedeutet, Jude zu sein? Fragen wie diese beantwortet die Haver-Stiftung mit einer ganzen Reihe konzeptionell gut durchdachter Angebote, an deren Erarbeitung Pädagogen und andere Fachleute mitgewirkt haben. »Unser Hauptziel ist weniger die Bekämpfung von Antisemitismus, sondern, dass es erst gar nicht dazu kommt«, sagt Geschäftsführerin Anikó Félix, die von Haus aus Soziologin ist.
Rund 20 Haver-Volontäre gibt es bisher, und die seien nicht viel älter als ihre Zuhörer, sagt sie. Das sei sehr wichtig, denn sie sprechen dieselbe Sprache und können sich in vielen Punkten mit ihren Zuhörern besser verbinden.
Mehr als nur Äußerlichkeiten
Die Frage der Begriffsklärung ist Teil des Programms »Identitäten« für Gymnasiasten. Das Ziel besteht darin, altbekannte Dogmen und Stereotypen zu überwinden. Im Verlauf der Gespräche darüber, was »Jude« bedeutet, kommen oft Denkmuster wie »reich«, »einflussreich« und »alte Männer in kurioser Bekleidung« zum Vorschein. Währenddessen werden den Schülern auch Porträts von Personen mit unterschiedlichem Aussehen gezeigt. Sie sollen anhand von Äußerlichkeiten bestimmen, wer ihrer Meinung nach jüdisch ist, wer nicht und warum sie das meinen. Etwa die Hälfte werden als Nicht-Juden betrachtet, zum Beispiel weil sie blond sind. »Es gibt immer wieder großes Erstaunen, wenn sich dann herausstellt, dass ihnen ausschließlich Fotos von jüdischen Menschen gezeigt wurden«, verrät Félix.
Das Prinzip des Programms »Kishaver« (»Kleiner Kumpel«) wurde an die Urteilskraft von Sechs- bis Achtklässlern angepasst. Grundschüler haben in der Regel kaum Wissen über Juden und andere Minderheiten, sind sich jedoch des Unterschieds zwischen »wir« und »andere« sowie des Bullyings sehr bewusst. »Verschiedene Merkmale führen oft zu Gruppenzugehörigkeiten, die sich unter Umständen gegeneinander wenden können«, so Félix. Das Programm erforsche dieses Phänomen auf spielerische Art und rege die Kinder dazu an, über ihre Gedanken und Erfahrungen nachzudenken. In Gesprächen würde dann die Dynamik erläutert, die zu Vorurteilen oder Diskriminierung führen kann.
Gleichzeitig würde die positive Seite der Identität betont und warum sie wichtig ist. Die Teilnehmenden sollen dazu mithilfe von kleinen Graphiken eigene »Identitätscharts« anfertigen, in denen sie darstellen, was für ihr Leben bestimmend ist. Zum Beispiel: in einer Großfamilie zu leben, Vegetarier zu sein oder ein Haustier zu besitzen. Die Moderatoren präsentieren wiederum ihre Identitätscharts, auf denen auch ein Davidstern zu sehen ist. Sie erklären, warum dieser für sie von Bedeutung ist. So kommt die Gruppe ins Gespräch über Religion und Tradition, aber auch darüber, wie gemeinsame Interessen oder Herkunft Menschen verbinden oder eben gerade ausgrenzen können.
Das Dilemma-Café
Beim »Dilemma-Café« kommt es oft zu heftigen Diskussionen. Dabei sitzen die Teilnehmenden in kleinen Gruppen an Tischen wie in einem Café. Auf dem »Menü« stehen kontroverse wahre Begebenheiten, wie die Geschichte des jüdischen Juristen Rezső Kasztner, der durch seine Kontakte zur NS-Führung 1670 Juden aus Konzentrationslagern freikaufen und in die Schweiz retten konnte. Die Frage lautet: War er ein Held oder vielmehr ein Nazi-Kollaborateur, der sich durch seine Handlungen bereichert hat? Ein weiteres Thema: War es lustig oder anstößig, als ein Schotte vor einigen Jahren dem Mops seiner Freundin den Hitlergruß beigebracht und Bilder davon ins Internet gestellt hat? War seine Handlung antisemitisch? Oder kann sie vielleicht als Verspottung von Neonazis betrachtet werden?
»Unser Hauptziel ist weniger die Bekämpfung von Antisemitismus, sondern, dass es erst gar nicht dazu kommt«
Auf die Frage, ob sich nach dem 7. Oktober 2023 etwas geändert habe, erwidert Félix, dass der Krieg zwar in der Gesellschaft und somit von Jugendlichen wahrgenommen werde, er spiele in Ungarn aber keine so wichtige Rolle wie in Westeuropa, zumal es hier bisher zu keinen judenfeindlichen Angriffen gekommen sei. »Nur gelegentlich werden wir darauf angesprochen. Unter uns diskutieren darüber viel und haben unsere Mitarbeiter durch Seminare auf eventuelle Fragen vorbereitet«, fügt die 34-Jährige hinzu.
Gegen Ausgrenzung
»Haver« hat sich auch dem Kampf gegen Ausgrenzung verschrieben. Deshalb haben sie die Arbeitsgemeinschaft »Haverom« ins Leben gerufen, die Schüler der Jüdischen Lauder-Javne-Schule und der buddhistischen Roma-Schule Dr. Ámbédkar zusammenbringt. Die beiden Gruppen sollen sich gegenseitig besuchen und ein gemeinsames Projekt erarbeiten. Am Ende des Jahres werden sie ihre Arbeit dann vorstellen.
Im Rahmen des zweijährigen Programms »Countering Hate Speech and Harmful Speech Against Diversity«, das von der EU unterstützt wird und sich mit Hassrede im Internet befasst, arbeitet Haver mit verschiedenen Zivilgesellschaften zusammen. Vulnerable Gruppen wie die LGBTIQ, Roma, Juden und Migranten. Die Stiftung hat unlängst Seminare für NGOs und Entscheidungsträger abgehalten, in denen sie erläutert hat, wie man gegen Hassrede vorgehen kann. Eine ähnliche Fortbildung hat es auch für Journalisten gegeben. Und mit Partners for Democratic Change Slovakia hat die Haver-Stiftung auch schon eine internationale Konferenz zum Thema Hassrede in der slowakischen Hauptstadt Bratislava durchgeführt.
Damit die Menschen lernen, dass sie dem Hass nicht ausgeliefert sind.