Herr Lellouche, mit Ihnen ist erstmals ein jüdischer Kandidat bei freien Wahlen in Tunesien angetreten. Warum haben Sie sich auf dieses politische Abenteuer eingelassen?
Ganz einfach: Viele Tunesier denken, dass Vertreter nichtmuslimischer Minderheiten sich weder für das Leben ihrer Stadt noch für die Politik des Landes interessieren. Ich wollte dieses Tabu brechen. Aber es geht mir nicht darum, eine Gemeinschaft zu repräsentieren, sondern ich habe es für mich getan. Ich wollte dieses Tabu brechen, und ich denke, es ist mir gelungen.
Warum haben Sie für die Republikanische Volksunion (UPR) kandidiert?
Die UPR trat auf mich zu wegen meiner Beiträge für die Zivilgesellschaft, zum Beispiel im Bildungsbereich. Das hat mit meiner Religion nichts zu tun. Ich war einfach Gilles Jacob Lellouche und nicht der tunesische Jude Gilles Jacob Lellouche.
Denken Sie wirklich, dass die Wähler Sie als Tunesier sehen und nicht als Jude?
Ja, jedenfalls immer mehr. Und jetzt beweisen sie es, weil keine Sekunde lang über meine Kandidatur böse geredet wurde. Das Ausland reagiert überrascht, aber in Tunesien ist niemand darüber erstaunt. Als tunesischer Bürger habe ich dieselben Rechte wie alle anderen. Religion ist für mich etwas Privates, das ist die Basis des Laizismus.
Im UPR-Wahlprogramm ist von Laizismus keine Rede, aber man liest das Wort Nationalismus.
Die UPR steht für die Trennung von Religion und Politik. Tunesien war bisher tatsächlich ein laizistischer Staat. Die UPR möchte, dass dies so bleibt, aber der Laizismus soll nicht wie in Frankreich als Staatsreligion daherkommen. In unserem Wahlprogramm meinen wir mit »Nationalismus« nicht den arabischen Nationalismus, wie man ihn zur Zeit Nassers hatte, sondern die Zugehörigkeit zur tunesischen Nation.
Laut Umfragen ist die islamistische Ennahda als Siegerin aus den Wahlen hervorgegangen. Wie gefährlich ist diese Partei für das Land und die jüdische Gemeinschaft?
Ich denke, zurzeit ist sie nicht besonders gefährlich. Es ist ein wenig verfrüht, Ennahda zur Wahlgewinnerin zu erklären. Auch wenn die Partei 40 Prozent der Stimmen erhält, heißt das nicht, dass sie die Mehrheit hat. Das System unterstützt die kleinen Parteien, die meiner Meinung nach gemäßigter und weltlicher sind. Ich denke, Ennahda ist nicht gefährlich, solange sie sich an ihr Wahlprogramm hält.
Aber man liest, die jüdische Gemeinschaft sei in Sorge. Einige denken darüber nach, das Land zu verlassen, falls die Islamisten die Wahl gewinnen.
Das ist Panikmache und vollkommen unbegründet. Auch ohne Ennahda schrumpft die jüdische Gemeinschaft Tunesiens seit Jahren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 300.000 Juden im Land, heute sind es 1.400. Dieser Tage, da Tunesien an die Tür der großen Demokratien klopft, wäre es idiotisch, auszuwandern, denn schließlich ist das doch auch unser Land.
Sie haben einen Verein geschaffen, der das jüdisch-tunesische Erbe wieder aufleben lassen soll.
Ja, kurz nach der Revolution. Unter dem Regime von Ben Ali war das nicht möglich. Der Verein nennt sich »Dar Edhakira«, das bedeutet »Haus der Erinnerung«. Das ist ein Verein zum Erhalt und zur Förderung des jüdisch-tunesischen Erbes. Wir wollen den Tunesiern diese Seite der Geschichte des Landes erzählen. Jüdisches Leben gibt es hier seit 1.000 Jahren.
Glauben Sie wirklich, dass sich das jüdische Erbe im Land wiederbeleben lässt?
Das hoffe ich sehr! Mich freut, dass unser Verein jetzt 900 Mitglieder hat, rund 70 Prozent davon sind Muslime.
Wann wird Ihr Land diplomatische Beziehungen mit Israel aufnehmen?
Derzeit ist es noch zu früh. Manche Parteien haben populistische Versuche unternommen und vor dem tunesischen Volk über Israel und über Palästina gesprochen. Ich denke, das waren Ablenkungsmanöver. Die wirkliche Sorge der Tunesier heute ist der Wiederaufbau des Landes. Erst wenn wir den geschafft haben, können wir darüber nachdenken, welche ausländischen Vertreter wir willkommen heißen.
Mit dem Kandidaten der tunesischen Union Populaire Republicaine sprach Sarah Gabriel-Pollatschek.