EILMELDUNG! Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Israels Premier Netanjahu

Ella Blumenthal

»Ich war nicht bereit zu sterben«

Ella Blumenthal im Film »I Am Here« (2021) Foto: picture alliance / Everett Collection

Ihre Familie starb im Konzentrationslager. In Auschwitz zwangen die Nazis sie, die Nacht hindurch eine tote Freundin anzustarren, die nach einem Ausbruchsversuch am Galgen baumelte. Ella Blumenthal (101) selbst überlebte die Gaskammer nur durch Zufall, da die SS an jenem Tag einen Tötungsbefehl für 500 statt 700 Jüdinnen erhalten hatte. 80 Jahre später schlägt die Holocaust-Überlebende beim Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Kapstadt spontan einen Tanz vor: »Einen Walzer oder einen Tango, solange meine Tochter mich stützt.« Alterssenilität? Nein, eher die Einstellung, die die gebürtige Polin die dunkelsten Stunden hat durchstehen lassen. Sie überlebte den Holocaust, Typhus, mit 92 Jahren einen Hüftbruch und jüngst eine Covid-Infektion.

Frau Blumenthal, kürzlich erschien Ihre Biografie. Wieso haben Sie nach so vielen Jahren beschlossen, Ihre Lebensgeschichte zu erzählen?
Künftige Generationen sollen wissen, was ich erlebt, wie ich gelitten und es doch irgendwie geschafft habe, diese schwierigen Phasen durchzustehen. Vielleicht war es Schicksal: Ich bin Zeugin, um zu erzählen, was Menschen einander antun können.

Haben Sie heute noch Albträume?
Sie haben mich nie verlassen, und ich lebe damit. Ich denke nicht nur täglich an das, was ich durchstand; es ist Teil von mir: Dass ich heute hier sitze, ist ein Wunder.

»Ich wusste, dass es ein ›Morgen‹ gibt und dass ich es erleben werde. Dass ein neuer Tag neues Leben bringt.«

Ella Blumenthal

Nach allem, was Sie in Auschwitz erlebten - wie können Sie immer noch positiv gestimmt sein?
Wäre ich das nicht, würde ich heute auch nicht hier sitzen und mit Ihnen sprechen. Ich wusste, dass es ein »Morgen« gibt und dass ich es erleben werde. Dass ein neuer Tag neues Leben bringt. Und nicht zuletzt glaube ich, dass es einen Grund gibt, warum ich noch hier bin. Nicht um bei Tee und Keksen zu plaudern, sondern um der Welt begreifbar zu machen, was ich durchstehen musste.

In Deutschland und Europa breitet sich erneut Nationalismus aus. Was sagen Sie zu einer Politik, die anhand von Religion, Ethnie oder Nationalität ausgrenzt?
Es ist schockierend, dass das nach Millionen Toten noch möglich ist. Dass es immer noch solch bösartige Menschen gibt, die damit Politik machen. Wie können sie immer noch so sprechen, so denken und gar so empfinden? Man muss eine Bestie sein, denke ich. Wir alle sind gleich geboren, ob unterschiedliche Hautfarbe, Religion oder Glaubenssätze. Ich hatte einst das Glück, zwei Widerstandskämpfer aus Deutschland kennenzulernen, die im Untergrund gegen das NS-Regime kämpften. In jedem Land gibt es diese Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeit der Herrschenden wehren. Das gibt mir Hoffnung.

Als Jugendliche haben Sie die deutsche Invasion in Polen miterlebt. Heute findet erneut ein Angriffskrieg in Europa statt. Hätten Sie das für möglich gehalten?
In eine Heimat einzudringen und zu sagen, »jetzt gehört sie mir« – das ist grundlegend falsch. Die Ukraine ist ein souveräner Staat. Wie kommt man auf die Idee, sich dort einfach auszubreiten? Es ist eigentlich undenkbar. Das ist exakt das, was Deutschland einst Europa antat.

Was bedeutet Familie für Sie?
Als ich am Ende des Krieges befreit wurde, stand ich vor der Tatsache, dass all meine Verwandten tot waren. Alle, bis auf meine Nichte. Sie überlebte mit mir gemeinsam und wich nie von meiner Seite. Es gab mir Kraft während des Krieges, mich um sie zu kümmern. Eines Tages wollte sie aufgeben. Sie sagte, der einzige Weg raus aus Auschwitz sei durch den Rauchfang. Also warum weitermachen? Aber ich war nicht bereit zu sterben. Ich habe stets mit der Hoffnung auf ein ›Morgen‹ gelebt. Damals sagte ich zu ihr: Warte noch einen Tag! – und das habe ich so lange wiederholt, bis sie einsah, dass ich vielleicht recht habe.

»Ich fühlte mit den Südafrikanern, denn ich wusste, was es heißt, in ihrer Haut zu stecken. Auch sie wollten bloß auf dieser Welt existieren.«

Ella Blumenthal

Nach Ihrer Befreiung lebten Sie in Paris und dem damaligen Palästina, ehe Sie mit ihrem südafrikanischen Mann nach Johannesburg zogen. Kurz darauf kam die Nationale Partei (NP) an die Macht. Wie erlebten Sie die Apartheid?
Als ich ankam, lebten Juden in Südafrika sicher und glücklich in ihren Familien. Oft frage ich mich, wie sie lebten, während man uns in Europa in Ghettos einsperrte. Wussten sie überhaupt, dass wir sterben? Was die Apartheid betrifft, war es ähnlich und auch wieder nicht. Die Menschen hier wurden getrennt, aber nicht wie wir getötet. Trotzdem fühlte ich mich nach Polen zurückversetzt. Ich fühlte mit den Südafrikanern, denn ich wusste, was es heißt, in ihrer Haut zu stecken. Auch sie wollten bloß auf dieser Welt existieren.

Frau Blumenthal jr., was bedeutet es, die Tochter einer Überlebenden zu sein?
Von Beginn an hatte ich das Gefühl, anders zu sein, wusste aber zunächst nicht, wieso. Ich wusste, dass unsere Familie anders war. Ich hatte keine Großeltern, Tanten oder Onkel. Wir lebten als kleine Familie sehr isoliert. Als ich alt genug war, erzählte mir meine Mutter ihre Geschichte und auch, woher die Narbe auf ihrem Arm stammt.

Frau Jowell, was bedeutete es Ihnen, dieses Leben niederzuschreiben?
In der jüdischen Kultur haben wir ein Konzept, bekannt als »Bashert«. Es besagt, dass man zu etwas bestimmt ist. Ich denke, dass dieses Projekt und meine Bekanntschaft mit Ella für mich Bashert waren. Es sollte sein. Nicht zuletzt war es auch eine Entdeckungsreise meines eigenen kulturellen Erbes.

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