Zweiter Weltkrieg

»Ich vertraue keiner Regierung«

Henryk Grynberg über den 1. September 1939, seine Bücher und Extremismus von rechts und links

von Michael Thaidigsmann  31.08.2019 20:59 Uhr

Der polnisch-jüdische Schriftsteller Henryk Grynberg (83) hat sein Heimatland 1967 verlassen. Er lebt heute in den USA. Foto: Kasia Jerzak

Henryk Grynberg über den 1. September 1939, seine Bücher und Extremismus von rechts und links

von Michael Thaidigsmann  31.08.2019 20:59 Uhr

Herr Grynberg, Sie waren drei Jahre alt, als im September 1939 der Zweite Weltkrieg begann. Haben Sie noch persönliche Erinnerungen an die Kriegszeit?
An den Kriegsbeginn selbst kann ich mich nicht erinnern. Aber meine Mutter erzählte später öfter, dass ich als kleines Kind vor den Kampfflugzeugen sehr viel Angst hatte, die damals häufig über uns hinwegdonnerten. Ich muss wohl mehrmals meine Eltern aufgefordert haben, schnell wegzulaufen und sich in den Büschen zu verstecken. Es muss so gewesen sein, denn bis heute kann ich Flugzeuglärm, vor allem von Maschinen, die gerade herunterkommen, nicht ausstehen. Diese Flugzeuge stehen sinnbildlich für diesen ganzen Krieg. Mein Bruder Buciek, der 1941 zur Welt kam, nahm sich, kaum, dass er laufen gelernt hatte, des Öfteren einen kleinen Stock, hielt ihn sich über den Kopf und lief damit wild umher, während er Flugzeuggeräusche nachahmte.

Wie verlief Ihre erste Begegnung mit den deutschen Besatzern?
Wir lebten auf dem Land. Deutsche sah ich das erste Mal, als ein Zug von Soldaten auf das weite Gehöft kam und zur Übung Schüsse auf den Holzzaun des Junker-Gartens abfeuerte. Im Anschluss riefen sie uns Kinder zu sich und gaben uns Schokobonbons. Ich war das einzige jüdische Kind und ergatterte auch ein Bonbon, bevor meine verängstigte Mutter herbeigerannt kam und mich von dort wegzog. Noch attraktiver als die Süßigkeiten waren übrigens die wie Gold glänzenden Patronenhülsen, die wir überall auflesen konnten. Das zweite Mal sah ich die Deutschen dann, als eines Nachts zwei von ihnen in unser Haus kamen und mein verängstigter Vater ihnen Schmiergeld zahlte. Es war anscheinend während der Sperrstunde Licht durch die Vorhänge nach draußen gedrungen.

Ich kann mich an den Kriegsbeginn selbst nicht erinnern. Aber bis heute kann ich Flugzeuglärm, vor allem von Maschinen, die gerade herunterkommen, nicht ausstehen.

Sie lebten damals im Gebiet des sogenannten Generalgouvernements. Haben Sie noch Erinnerungen an die ersten Razzien gegen Juden?
Glücklicherweise wurden wir auf dem Land damit in Ruhe gelassen bis zum Sommer 1942. Da wurden wir angewiesen, in das offene Ghetto im nahe gelegenen Dobre überzusiedeln. Der Ort liegt etwas östlich von Warschau und war die Heimatstadt meiner Mutter. Wir wohnten dann dort mit ihren Eltern und Geschwistern. Die erste antijüdische Aktion beobachtete ich, als mir meine Mutter auftrug, meinem Großvater etwas zu essen zu bringen. Ich fand ihn an einer Straße kauernd, mit einem Hammer in der Hand. Er musste Steine kleinschlagen. Er starrte mich traurig an und sagte kein Wort. Ich habe diesen Anblick nie vergessen.

Wie haben Sie und Ihre Mutter überlebt?
Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Ich habe sie in meinen Büchern ausführlich beschrieben. Im Frühherbst 1942 wurde unser kleines Ghetto aufgelöst und in ein nahe gelegenes jüdisches Schtetl verlegt, von wo aus einige Wochen später die Deportationen nach Treblinka begannen. Viele Menschen flohen, wir auch. Aber es war natürlich unmöglich, sich mit einem kleinen Kind wie meinem 16 Monate alten Bruder im Wald zu verstecken, und so ließ ihn meine Mutter bei einer Bauernfamilie zurück, die sie dafür großzügig entschädigte. Buciek war blond und blauäugig und konnte leicht als nichtjüdisches Kind durchgehen. Nach ein paar Wochen aber entschied der Bauer, sich des Jungen zu entledigen. Er wurde den Deutschen übergeben und kurz darauf von einem Gendarmen in Jadow erschossen. Meine Eltern und ich versteckten uns bei Bauern und in den Wäldern – bis zum Beginn des Frühjahrs 1943. Dann gelang es meiner Mutter, gefälschte »Ariernachweise« zu bekommen und einen Ort in Warschau aufzutun, wo sie und ich als Nichtjuden durchgingen. Mein Vater blieb mit den direkten Angehörigen meiner Mutter in den Wäldern versteckt. Seine eigenen Eltern, zwei Schwestern und ein Bruder wurden nach Treblinka deportiert beziehungsweise auf dem Weg dorthin erschossen. Wenig später wurde die Familie meiner Mutter aufgebracht und – im wahrsten Sinne des Wortes – zu Tode gehetzt; ein Jahr später auch mein Vater. Und die Jäger waren noch nicht einmal Deutsche ... Auf der anderen – der »arischen« – Seite waren meine Mutter und ich gezwungen, ständig den Aufenthaltsort zu wechseln, um so möglichen Verrätern und Erpressern aus dem Weg zu gehen. Es gab einen Moment, da konnten wir nirgends mehr hingehen. Meine Mutter dachte schon über Selbstmord nach, aber im letzten Moment fand sich ein guter Samariter, der uns half. Wir gingen dann illegal über die Grenze aus der Zone des Generalgouvernements in das vom Deutschen Reich annektierte Gebiet. Niemand kannte uns dort, und meine Mutter gab illegalerweise polnischen Kindern Unterricht. Befreit wurden wir schließlich im Sommer 1944 von der sowjetischen Armee. Danach gingen wir nach Dobre zurück. Es hatte aber lediglich ein Dutzend jüdischer Bewohner überlebt, und keiner unserer Familienangehörigen war darunter.

Nach dem Krieg wurde Polen Teil des Einflussbereichs der Sowjetunion. Wie groß war der Antisemitismus damals, gerade in Anbetracht dessen, dass drei Millionen polnische Juden ermordet worden waren?
Mehr als 200.000 polnische Juden hatten den Krieg in der Sowjetunion überlebt. Als er vorüber war, kehrten sie nach Polen zurück und versuchten, jüdisches Leben und jüdische Kultur wiederzubeleben. Dafür gab es finanzielle Unterstützung von Juden aus den USA und anderen westlichen Ländern. Aber das Nachkriegspolen wollte sie offenkundig nicht haben. Sinn und Zweck des berüchtigten Kielce-Pogroms im Juli 1946 war es ja, die Juden aus Polen vollends zu vertreiben. Das war einigermaßen erfolgreich, und es folgte eine massenhafte jüdische Auswanderung. Diejenigen, die es in den 40er-Jahren nicht herausschafften, emigrierten später in zwei weiteren Wellen 1956/57 und 1968/69. Beide Male wurden gezielt Antisemitismusausbrüche provoziert.

Der neueste »Grund«, Juden zu hassen, war (nach dem Krieg) die Tatsache, dass sie nach Polen zurückkehren und Anspruch auf ihren Besitz erheben könnten.

Woher kam dieser Hass auf die Juden?
Es gab viele Ursachen, alte und neue. Alt war die antijüdische Lehre der Kirche. Hinzu kam der allgemeine Rassismus des 20. Jahrhunderts. Der neueste »Grund«, Juden zu hassen, war die Tatsache, dass sie nach Polen zurückkehren und Anspruch auf ihren Besitz erheben könnten. Besitz, der ihnen zuvor gestohlen worden war.

Sie haben sich selbst einmal einen »Chronisten des Schicksals der polnischen Juden« genannt. Wie sind Sie und andere polnische Juden mit dem Trauma von Krieg und Verfolgung fertiggeworden?
Die meisten jüdischen Überlebenden mussten mit dem Trauma der Schoa fertigwerden, nicht so sehr mit dem Krieg an sich. Und ihre Art, damit umzugehen, war, so weit von Polen fortzugehen wie nur irgend möglich. Diejenigen, die doch blieben, waren entweder von der kommunistischen Ideologie verblendet oder hatten allerhand persönliche Gründe. Mein Stiefvater wurde zum Beispiel 1947 verhaftet, als wir bereits Pässe und Ausreisegenehmigungen hatten und dabei waren wegzugehen. Er und meine Mutter nutzten die nächste sich bietende Gelegenheit und verließen Polen 1957. Ich blieb zurück. Ich wollte erst mein Studium an der Universität Warschau beenden.

Sie studierten mit Hanna Krall, die viel über ähnliche Themen publizierte. Was können Sie uns über sie erzählen?
Hanna studierte im Jahrgang über mir, und ich kannte sie damals kaum. Wir wurden aber gute Freunde, als wir schon recht bekannte Schriftsteller waren. Ich war von Anfang an in meiner beruflichen Laufbahn, Ende der 50er- und 60er-Jahre, auf das Jüdische fokussiert. Hanna begann ihre Karriere als Journalistin für allgemeine polnische Angelegenheiten. Erst 1976, als sie ihr Gespräch mit Marek Edelman (»Schneller als der liebe Gott«) veröffentlichte, nahm sie sich jüdischer Themen an. Sie ist definitiv eine der besten Autorinnen im Bereich der Holocaust-Thematik.

Im Jahr 1967 waren Sie mit Ihrem Jiddischen Theater auf Tournee in den Vereinigten Staaten. Damals entschieden Sie dann, nicht mehr in Ihr Heimatland zurückzukehren. Warum?
Nachdem ich meinen Uni-Abschluss in der Tasche hatte, war ich zunehmend beim Jiddischen Theater Warschau involviert. Gleichzeitig veröffentlichte ich meine erste Kurzgeschichte »Ekipa ›Antygona‹« (»Antigone-Mannschaft«). Ich empfand es als meine Pflicht, wenn nicht sogar meine Mission, in Polen zu bleiben und das Andenken an die jüdische Kultur wachzuhalten und zu pflegen. Acht Jahre lang tat ich das auch, auf der Jiddisch-Bühne und indem ich eine Reihe von Kurzgeschichten, ein Gedichtbuch und eine Novelle (»Der jüdische Krieg«) veröffentlichte. Eine Zeit lang sah es so aus, als hätte ich meinen Platz in der Welt gefunden. Aber dann kam es Mitte 1967, kurz nach dem Sechstagekrieg, zwischen den Arabern und Israel zu einem erneuten Ausbruch des Antisemitismus. Dieses Mal wurde er angeheizt von einem sich als »fortschrittlich« gerierenden Regime, das immer wieder die »internationale Solidarität« beschwor. Ich konnte das alles nicht mehr ertragen. Schlimmer noch, meine Veröffentlichungen wurden damals scharf zensiert. Das alles machte es mir unmöglich, weiter zu bleiben. Meine »Mission« in Polen war damit beendet.

Es leben heute mehr Juden in Deutschland, dem »Land der Täter«, als in Polen, einstmals Heimat von drei Millionen Juden. Wir erklären Sie sich das?
Juden haben sich auch schon vorher ähnlich verhalten, nach fast jedem Massaker an ihnen. Ein, zwei Generationen später sind sie wieder da, meist aus wirtschaftlichen Gründen. Es ist verblüffend, aber Juden haben beides: ein unglaublich langes und ein erstaunlich kurzes Gedächtnis.

Wie wird Ihrer Meinung nach die Zukunft des polnischen Judentums aussehen?
Das polnische Judentum gibt es nicht mehr, deswegen kann es auch keine Zukunft haben. Was es aber gibt und was es zu bewahren gilt, ist die sehr wichtige und lange Vergangenheit. Glücklicherweise gibt es da einige vertrauenswürdige Bewahrer, wie zum Beispiel das Warschauer Jüdische Historische Institut, das POLIN-Museum, das Überbleibsel eines jüdischen Theaters, jüdische Festivals, engagierte Historiker und den guten Willen all jener, die sich um die jüdischen Friedhöfe in Polen kümmern.

Das polnische Judentum gibt es nicht mehr, deswegen kann es auch keine Zukunft haben. Was es zu bewahren gilt, ist die Vergangenheit.

Vor Kurzem gab es wieder Streit zwischen Polen und Israel über die Rolle und Bedeutung polnischer Nazi-Kollaborateure während des Zweiten Weltkriegs. Was ist Ihre Meinung zu diesem Thema?
Ich vertraue grundsätzlich keiner Regierung. Immer wenn Regierungen sich in Fragen der Geschichtsschreibung oder der Kultur im Allgemeinen einmischen, tun sie es aus einem politischen Grund. Der Talmud hat recht: Man sollte, soweit es geht, Distanz halten zur Regierung. Ich würde hinzufügen: Man sollte die Regierung, soweit es geht, aus dem Kulturbereich heraushalten. Und was die aktuelle polnische Regierung angeht, so habe ich vor Kurzem eine Erklärung veröffentlicht unter der Überschrift »Ich bin froh, dass ich immer noch ein Flüchtling bin«.

Was kann heute überhaupt getan werden, um Völkermord und Angriffskriege zu verhindern, wie jenen, der am 1. September 1939 von Nazi-Deutschland begonnen wurde?
Wir müssen neue soziale Bewegungen genau beobachten, wir müssen wachsam sein und bereit, notfalls zu handeln. Der Faschismus hat heute verschiedene Ausprägungen und Farben, und er ist längst nicht mehr auf den rechten Teil des politischen Spektrums beschränkt. Die Extremisten auf der Rechten sind mit denen auf der Linken fast identisch. Es fällt mir schwer, den Unterschied auszumachen zwischen »Antifa« und »Fa«. Der »Antizionismus« wurde beispielsweise vor einigen Jahrzehnten in Moskau erfunden und in den 60er-Jahren in Warschau aktiv praktiziert. Ich finde es verblüffend, mit welcher Leichtigkeit im Westen der »Antizionismus« die Rolle des tradierten, altmodischen Antisemitismus übernommen hat. Mich beunruhigt, was an Universitäten passiert. Es gibt da eine unverantwortliche Halb-Intelligentsia, viele neunmalkluge Intellektuelle, die die nachfolgenden Generationen verführen. Die Jugend war schon die Basis für Bolschewismus und Nazismus, und die Hochschulen leisteten zu beidem einen wichtigen Beitrag. Menschenverachtende Aggression muss sofort bekämpft werden, wenn sie ihr schmutziges Haupt erhebt. Das gilt ganz besonders für Massenmedien und Bildungseinrichtungen.

Glauben Sie, dass ein verheerender Krieg wie der Zweite Weltkrieg oder die Schoa wieder passieren kann?
Der Antisemitismus, den wir heute in all seinen Schattierungen erleben, ist doch der Beweis dafür, wie wenig die Welt aus der Vergangenheit gelernt hat. Wir Juden sind so etwas wie der Kanarienvogel im Kohlebergwerk. Bislang wird eine neue Schoa verhindert durch die Existenz eines jüdischen Staates und dank der Schutzmacht der Vereinigten Staaten von Amerika. Letztere sollte man aber nicht als selbstverständlich ansehen. Eine wachsende Zahl von Extremisten hier könnte diese Supermacht eines Tages zerstören – von innen heraus.

Die Fragen an den Schriftsteller stellte Michael Thaidigsmann. Auf Deutsch erschien von Henryk Grynberg unter ande­rem »Der Sieg« (Hentrich & Hentrich, 2016).

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