Herr Gold, Sie sind Chefredakteur einer der ältesten jüdischen Zeitungen in der Ukraine. Wie wirkt sich der Krieg auf Ihre Arbeit aus?
Der Krieg hat alles verändert. Es ist nach dem 24. Februar nicht mehr möglich, eine jüdische Zeitung mit Rubriken wie Kultur, Kunst oder Sport herauszugeben.
Was tun Sie stattdessen?
Ich sammle Zeugnisse von jüdischen Flüchtlingen und Vertriebenen. Ganze Gemeinden haben zusammen mit ihren Rabbinern ihre Orte verlassen. Der Kreml erklärt, offizielles Ziel der russischen »Sonderaktion« seien die Entnazifizierung und der Schutz der russischsprachigen Bevölkerung. Doch die Geschichten von russischsprachigen jüdischen Flüchtlingen, deren Leben von den »Befreiern des Nationalsozialismus« zerstört wurde, sprechen eine andere Sprache.
Sie haben Ihr Projekt Exodus 2022 genannt.
Ja, aber es sind nicht nur Berichte von Flucht und Evakuierung. Sondern ich schreibe auf, wie sich jüdische Flüchtlinge an Ereignisse nach der russischen Invasion erinnern. Dazu gehören emotionale Reaktionen auf den Kriegsausbruch, Erfahrungen des Überlebens unter Artilleriebeschuss, oft in Kellern, ohne Strom, Gas, Kommunikation und mit nur wenig Wasser und Nahrung.
Für manche Ältere ist es die zweite Evakuierung …
Ja, die erste war vor 80 Jahren, als sie vor den Deutschen flohen. Mein Vater hat im Oktober 1941 als Achtjähriger eine solche Evakuierung von Moskau in den Ural erlebt. Im März musste er aus Kiew fliehen – er ist jetzt in Israel. Eine meiner Befragten aus Mariupol überlebte die Nazi-Besatzung als Kind bei Nachbarn im Versteck im Keller und auf dem Dachboden. Ihr Ehemann hat die Leningrader Blockade durchgemacht. Im April wurden die beiden auf wundersame Weise aus dem belagerten Mariupol nach Kiew transportiert.
Wie viele Zeitzeugenberichte haben Sie schon aufgeschrieben?
Etwa 150. Das sind ganz unterschiedliche Menschen – von Studenten und Rentnern bis zu Unternehmern, Künstlern und Rabbinern. Da ist die streng religiöse Familie aus Odessa mit 13 Kindern, und es gibt eine Frau, die erst kurz vor dem Krieg herausfand, dass ihre Mutter Jüdin war.
Wie veröffentlichen Sie diese Berichte?
Fragmente publiziere ich auf meiner Facebook-Seite. Aber das Ziel ist eine mehrsprachige Website mit den ausführlichen Berichten oder ein Buch mit den dramatischsten Flüchtlingsgeschichten. Doch das kostet Geld, das wir noch nicht haben. Die Welt wird von Tag zu Tag kriegsmüder – das liegt in der menschlichen Natur. Aber jemand muss die Welt daran erinnern, was mit der Ukraine und ihren Juden passiert. Es mag ein undankbarer Job sein, doch er ist notwendig.
Das Interview mit dem Chefredakteur der Kiewer jüdischen Zeitung »Hadashot« führte Tobias Kühn.