Frau Cahen, Sie sind als Ministerin für die Großregion Luxemburgs auch als Krisenmanagerin gefragt. Was war in den vergangenen Wochen die größte Herausforderung?
Die allergrößte Herausforderung war, dass Deutschland seine Grenzen schloss.
Aber auch Luxemburg, einst Herz von Europa, hat während der Corona-Pandemie die Grenzen geschlossen. Hat die EU versagt, ist der Schengen-Vertrag tot?
Wir haben in Luxemburg nie irgendeine Grenze geschlossen und sind auch sehr traurig, dass das so ein nationalistischer Reflex war. Ich hoffe nicht, dass Europa damit gestorben ist, aber ich glaube, dass mit diesen Grenzschließungen viele Leute gemerkt haben, wie großregional wir hier im Alltag leben.
Luxemburgs Wirtschaft und Wohlstand hängen in hohem Maße von den Grenzpendlern ab. Rund 200.000 von ihnen kommen jeden Tag aus den Nachbarländern zur Arbeit. Welche Auswirkungen hatten die Ausgangsbeschränkungen für die Menschen der Großregion?
Am Anfang war die große Angst, dass die Menschen, die in Krankenhäusern arbeiten, nicht zur Arbeit kommen können. Wir haben deshalb Hotelzimmer zur Verfügung gestellt für Pendler, die in Luxemburg in »systemrelevanten Jobs« arbeiten. Einige Hundert haben dies genutzt.
Gab es in der Krise überhaupt noch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit?
Wir haben gut mit den Franzosen zusammengearbeitet, ebenso mit den Belgiern. Das Problem waren eher die Deutschen, weil in Berlin Entscheidungen getroffen wurden von Leuten, die keine Ahnung haben, wie wir hier in der Grenzregion leben.
Die Restriktionen des Lockdown betreffen vor allem auch Pflegeeinrichtungen. Ältere Menschen sterben isoliert und einsam. Fiel es Ihnen nicht schwer, diese Einschränkungen durchzusetzen?
Doch, ich habe mich deshalb immer mit den Partnern ausgetauscht und überlegt, wie man das ändern kann. Es geht vor allem darum, ältere Menschen zu schützen. Aber es gab sehr viele Ältere, die mir gesagt haben: »Mir ist es egal, ob ich an Corona oder an sonst etwas sterbe. Ich möchte meine Kinder und Enkelkinder sehen.« Über Wochen habe ich gekämpft, um dies möglich zu machen. Wenn die Leute zu Hause leben, kann man von Weitem, am Fenster oder am Balkon miteinander reden. In einem Pflegeheim ist das nicht einfach möglich, denn die Mitarbeiter der Heime müssen dafür sorgen, dass die Menschen gesund bleiben. Dazu gehört auch die Abschottung, denn es besteht eine sehr große Ansteckungsgefahr. Ich bin froh, dass wir die Pflegeeinrichtungen wieder etwas öffnen konnten.
Fällt es nicht gerade einer Liberalen schwer, von staatlicher Seite individuelle Freiheiten einzuschränken?
Ich bin für die Freiheit der Menschen. Aber vor dem Hintergrund dessen, dass wir in Bergamo gesehen haben, wie schlimm es werden kann, und der Verantwortung gegenüber unserem Gesundheitssystem gehört es auch zu meiner liberalen Haltung, dass jeder ein Recht auf gleiche Behandlung im Krankenhaus hat. Um das möglich zu machen, mussten wir dafür sorgen, dass die Ärzte und Pfleger korrekt arbeiten konnten. Jetzt, wo alle die sanitären Maßnahmen verinnerlicht haben, ist ein guter Zeitpunkt für Lockerungen.
Synagogen sind geschlossen, und viele Menschen konnten selbst den Pessach-Seder nicht mit ihren Angehörigen verbringen, sondern nur über Streamingdienste zusammen feiern. Drohen die Gemeinden nicht auseinanderzubrechen?
In Krisensituationen lernt man zu schätzen, was man aneinander hat. Feste wie Pessach sind nicht nur dazu da, um daran zu erinnern, wie die Juden aus Ägypten zogen, sondern man verbringt Momente zusammen in der Familie. Ich habe den Eindruck, dass der Lockdown die Menschen wieder zusammenschweißen könnte. Und was sind schon sieben Wochen? Das nächste Pessach und das nächste Ostern kommen bestimmt, und dann wird man sich erinnern, wie seltsam das 2020 alles war.
Corinne Cahen ist luxemburgische Familienministerin, Ministerin für die Großregion und Präsidentin der Liberalen Partei Luxemburgs. Das Gespräch führte Anina Valle Thiele.