Reportage

»Ich bin ewige Wienerin«

Ruth Morley (M.) beim Landausflug mit ihrer Familie (undatiert) Foto: dpa

Als Melissa Hacker 1990 mit ihrer Mutter Ruth Morley Wien besuchte, hatte diese eine besondere Anweisung an ihre Tochter: »Sie sagte mir, ich solle nicht für die U-Bahn bezahlen, um keinen faschistischen Staat zu unterstützen«. Der Schmerz saß tief bei der mittlerweile gestorbenen Jüdin Morley, die 1939 mit einem Kindertransport vor den Nazis aus ihrer Heimat Österreich fliehen musste und schließlich in den USA Zuflucht fand.

Durch eine Gesetzesänderung für Nachkommen von NS-Opfern wird Tochter Hacker, einer US-amerikanischen Filmemacherin, am Dienstag nun von Bundeskanzler Sebastian Kurz in New York die Staatsbürgerschaft Österreichs verliehen. Für die 59-Jährige geht mit der »längst überfälligen Anerkennung« ein jahrzehntelanges Unrecht zuende. Eine ähnliche Regelung wurde jüngst auch in Deutschland ausgeweitet.

Seit September erleichtert eine neue Regelung die Einbürgerung von Nachkommen von NS-Verfolgten in Österreich. Bis dahin konnten Nachfahren von Juden, politischen Gegnern des Nationalsozialismus und anderen Gruppen wie den Roma und Sinti die Staatsbürgerschaft nur erhalten, wenn sie von einem männlichen Opfer abstammten.

Nun aber können Kinder, Enkel und Urenkel auch in der weiblichen Linie Österreicherinnen und Österreicher werden. Außerdem gilt die Regel auch für jene, die zwar aus Österreich flüchten mussten, aber den Pass eines anderen Nachfolgestaates der Habsburgermonarchie - also beispielsweise Ungarn - besaßen oder staatenlos waren.

Bis zum Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich lebten etwa 200.000 Juden in Österreich. 65.500 von ihnen fielen der Schoah zum Opfer - nur etwas mehr als der Hälfte gelang die Flucht. Die neue Regelung stößt bei ihren Nachfahren auf großes Interesse. Zwischen September und Ende Juni gingen knapp 13.700 Anträge ein - die meisten aus Israel, den USA und Großbritannien. Rund 7900 Menschen wurde bereits die Staatsbürgerschaft zuerkannt, nur 138 Anträge wurden abgelehnt, heißt es von der Stadt Wien, die die Verfahren abwickelt.

»Viele sagen: »Ich möchte das im Andenken an meine Eltern oder Großeltern tun««, berichtet Hannah Lessing, die Generalsekretärin des österreichischen Nationalfonds. Amerikanerin Hacker glaubt, dass ihre Mutter - die in den USA eine weltbekannte Kostümdesignerin wurde - gemischte Gefühle dabei hätte, wenn sie wüsste, dass ihre Tochter die Staatsbürgerschaft ihres Geburtslandes erhält.

Und auch Hacker selbst hat Vorbehalte - gegen die Verleihung im festlichen Rahmen durch Bundeskanzler Kurz. »Einige finden, dass dies eine PR-Aktion ist um zu zeigen, dass Österreich kein antisemitisches Land mehr ist«, erklärt sie. Dabei gebe es im Alpenland genauso wie in vielen anderen Ländern nach wie vor viele Übergriffe gegen Juden.

Auch mit der restriktiven Migrationspolitik Österreichs ist sie nicht einverstanden. Würde Kurz noch mit der rechten FPÖ regieren, sagt Hacker, hätte sie der Verleihung im Konsulat nicht zugesagt. Tatsächlich stehen die Lockerungen bei der NS-Nachkommensregeln im Gegensatz zum Staatsbürgerschaftsrecht Österreichs, das weltweit zu den beschränktesten gehört.

Mit Blick auf einen gescheiterten linken Vorstoß zur leichteren Einbürgerung für Migranten sagte Kurz zuletzt, seine konservative ÖVP sei Garant, dass die Staatsbürgerschaft nicht durch nicht-integrierte Menschen entwertet werde. Bei der Neuregelung zu NS-Nachkommen jedoch waren sich die Parteien einig - die Erinnerung an Nazi-Verbrechen und gute Beziehungen zu Israel sind für Kurz wichtige politische Themen.

Auch in Deutschland wurde jüngst eine entsprechende Regelung großzügiger ausgestaltet. War bisher eine erleichterte Einbürgerung für Nachkommen von NS-Verfolgten nur möglich, wenn mindestens ein Elternteil vor dem 1. Januar 2000 geboren war, fällt die Einschränkung künftig weg. Die Reform, die der Bundestag Ende Juni verabschiedete, führte zudem einen gesetzlichen Anspruch auf den deutschen Pass ein. Davor beruhten die Regelungen auf Erlassen.

Unter den sechs Amerikanern, die Kurz am Dienstag auch zu Österreichern macht, ist auch die 92-Jährige Evelyn Konrad. Sie ist keine Nachkommin, sondern selbst Opfer: In den 30er-Jahren floh die gebürtige Wienerin mir ihren Eltern zunächst nach Budapest, dann nach Frankreich und über Spanien nach Portugal, wo wie schließlich ein Visum für die USA erhielt.

In Amerika konnte die Jüdin sich frei entfalten, studierte in Stanford, machte Karriere unter anderem als Rechtsanwältin und gründete eine Familie. Wien blieb ihr als Stadt immer im Herzen, auch wenn sie sich noch gut erinnert, wie sie und ihre Mutter unter der Nazi-Herrschaft als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, ihre Mutter auf der Straße geschubst wurde, wie Bekannte sich abwandten.

Nun am Ende ihres Lebens wieder Österreicherin zu sein ist der New Yorkerin deshalb ein besonderes Anliegen. Wieder nach Europa übersiedeln würde Konrad allerdings nur in einem Fall: »Wenn Trump nochmal Präsident wird - dann ist Wien besser als Kanada«, sagt sie. Ansonsten plant sie mit ihrer Enkelin im kommenden Jahr schon wieder die nächste Reise, diesmal als Staatsangehörige: »Ich bin ewige Wienerin - und jetzt auch Österreicherin«.

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