Interview

»Ich bereue nicht einen Schuss«

Chaim Miller Foto: screenshot JA

Herr Miller, können Sie sich noch an den ersten NS-Verbrecher erinnern, den Sie aufgespürt und getötet haben?
Hören Sie, ich bin zwar 93 Jahre alt, aber so etwas vergisst man nicht. Meinen ersten SS-Mann habe ich direkt nach Kriegsende 1945 in Italien ermordet. Es war ein Nazi aus meiner Heimatstadt Wien, der während der Schoa besonders schlimm gewütet hatte. Damals war ich Soldat bei der Jüdischen Brigade in der britischen Armee. Als ich ihn entführt und im Wald mit seinen Taten konfrontiert hatte, gab er sofort alles zu. Es schien für ihn eine Erleichterung gewesen zu sein, endlich mit jemandem darüber zu sprechen, was er getan hatte.

Wie ging es dann weiter?
Ich verkündete ihm sein Urteil. Er schaufelte eine Grube aus und kniete sich brav hin – pflichtbewusst bis in den Tod. Noch bevor er den Knall hören konnte, war er tot.

Hatte die britische Armee Kenntnis von den Standgerichten, die Sie abhielten?
Nein, das war die Idee von meinen Kameraden und mir. Das waren alles Juden, die Nazis hatten viele unserer Familienmitglieder ermordet. Meine Mutter zum Beispiel wurde nach Riga deportiert und in einem Wald erschossen. Es heißt immer, Rache sei genauso schlimm wie das erlittene Unrecht. Das ist Quatsch. Mir hat sie geholfen.

Hatten Sie trotzdem manchmal Schuldgefühle?

Nie! Ich bereue nicht einen Schuss. Ich bin nicht stolz darauf, was ich getan habe, aber ich hätte noch mehr hochrangige Nazis umbringen sollen. Diese Männer haben unfassbare Schuld auf sich geladen. Und unsere Informationen über die Nazis waren durch Berichte von jugoslawischen Partisanen und KZ-Überlebenden zweifelsfrei richtig. Bis auf einen SS-Mann haben alle ihre Taten gestanden. Den haben wir dann auch gleich laufen lassen. Ich habe getan, was ich hatte tun müssen. Das bin ich meinen jüdischen Brüdern und Schwestern schuldig gewesen, die von den Nazis ausgelöscht wurden.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hat am Dienstag die Bundesrepublik in seinem Jahresbericht zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern positiv hervorgehoben. Teilen Sie dieses Lob?
Besser spät als nie. Es ist immer richtig, jemanden zu verurteilen, der sich schuldig gemacht hat. Ein Schandfleck für die Bundesrepublik ist es natürlich trotzdem, dass die Täter erst Jahrzehnte nach der Schoa gewissenhaft verfolgt werden. Beziehungsweise mehr oder weniger gewissenhaft.

Wie meinen Sie das?

Ich lebe in Israel. In den Nachrichten dort wird regelmäßig darüber berichtet, dass auch heute noch einige Nazis unbehelligt frei herumlaufen. Anscheinend spielt die deutsche Justiz manchmal immer noch auf Zeit. Das macht mich wütend. Wenn ich nicht so alt und gebrechlich wäre, würde ich mit meinen früheren Kameraden von der Jüdischen Brigade vielleicht noch einmal losziehen.

Mit dem Schoa-Überlebenden und Nazi-Jäger sprach Philipp Peyman Engel.

Kalifornien

»Es ist okay, nicht okay zu sein«

Wie die jüdische Gemeinschaft in Los Angeles mit den verheerenden Bränden umgeht – ein Zeugenbericht

von Jessica Donath  13.01.2025 Aktualisiert

Essay

Ritt ins Verderben

Gedanken eines österreichischen Juden zu einer möglichen Kanzlerschaft des Rechtsextremisten Herbert Kickl

von Vladimir Vertlib  12.01.2025 Aktualisiert

Frankreich

Zuflucht vor Mobbing

Weil die Zahl antisemitischer Vorfälle dramatisch steigt, nehmen immer mehr jüdische Eltern ihre Kinder von öffentlichen Schulen und schicken sie auf private. Eine Erkundung in Paris

von Florian Kappelsberger  12.01.2025

Polen

Duda würde Netanjahu nicht verhaften lassen

Am 27. Januar jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 80. Mal. Kommt der israelische Ministerpräsident trotz eines Haftbefehls gegen ihn?

 09.01.2025

Kalifornien

Synagoge fällt Feuern von Los Angeles zum Opfer

Die riesigen Brände gefährden auch jüdische Einrichtungen

 08.01.2025

USA

Welcome to Jiddishland

Nirgendwo sprechen so viele Menschen Jiddisch wie in New York. Und es werden immer mehr. Die Mameloschen hat die Grenzen der chassidischen Communitys längst überschritten

von Jörn Pissowotzki  08.01.2025

Social Media

Elon Musk hetzt wieder gegen George Soros

Der Berater des designierten US-Präsidenten Donald Trump bedient sich dabei erneut der Figur des Magneto aus dem Marvel-Universum

von Ralf Balke  08.01.2025

Interview

»Die FPÖ gilt als Prototyp des Rechtspopulismus«

Demokratieforscher Simon Franzmann über den Rechtsruck in Österreich

von Michael Grau und Daniel Behrendt  08.01.2025

Meinung

Der Neofaschist Herbert Kickl ist eine Gefahr für Österreich

In der FPÖ jagt ein antisemitischer »Einzelfall« den anderen, ihr Obmann will die liberale Demokratie abschaffen und könnte schon bald Kanzler sein

von Bini Guttmann  08.01.2025