Toby Levy ist blass, ihre Augen wirken müde. »Ich bin im vergangenen Jahr deutlich schwächer geworden«, sagt sie und blinzelt in die Wintersonne, die vom Meer her in ihre Wohnung in Brighton Beach scheint. Seit genau einem Jahr ist Toby Levy, 87, an ihre Wohnung am äußersten Ende von New York gebunden. Ihre fünf Enkel hat sie in dieser Zeit nur per Zoom gesehen. Ihren Urenkel, der im Februar 2020 geboren wurde, kennt sie bislang nur vom Bildschirm.
In diesen Tagen ist Toby Levy oft in schwermütiger Stimmung. Allein die täglichen Spaziergänge am Boardwalk, dem berühmten Holzsteg am Meer, der Brighton Beach mit Coney Island verbindet, schützen sie davor, in eine tiefe Depression zu versinken.
Es gibt Zeiten, in denen sie diese Lage zornig macht, obwohl Toby Levy eigentlich ein sanftes Gemüt hat. Zu Beginn dieses Jahres setzte sie sich in einer düsteren Laune an ihren Computer und verfasste einen Aufsatz, den sie an die »New York Times« schickte. »Die Nazis haben mir meine Kindheit gestohlen«, betitelte sie ihn. »Jetzt stiehlt mir Covid meine letzten Jahre.«
EINGESPERRT Seit Covid ausgebrochen ist, muss Toby Levy oft an diese Kindheit denken, weit häufiger als in den Jahrzehnten zuvor. Das Gefühl des Eingesperrtseins, das für sie schier unerträglich ist, versetzt sie zurück in jene Scheune in der galizischen Stadt Chodorow, in der sie die Jahre zwischen 1942 und 1944 verbrachte.
Ihr Vater, Moshe Eisenberg, wollte damals nicht vor den Nazis aus Chodorow fliehen. Er glaubte nicht daran, dass man sich anderswo in Polen besser verstecken könne oder dass die Aussichten zu überleben im Ghetto Lemberg größer seien.
Ihr Vater, Moshe Eisenberg, wollte damals nicht vor den Nazis aus Chodorow fliehen.
Stattdessen zog er mit Mörtel und Brettern in der Scheune eines Nachbarn eine Wand ein. Vor der Wand lebten ein paar Hühner und ein Schwein, als Tarnung. In dem Raum dahinter, auf kaum sechs Quadratmetern, versteckte er seine Familie.
versteck Neun Menschen waren das, fünf Kinder und vier Erwachsene – Toby, ihre Geschwister, ihre Cousins und Cousinen, ihre Eltern, ihre Tante und ihr Onkel. Vorsichtig abwechselnd trat einer ab und an in den Hauptraum der Scheune und streckte die Glieder aus. Ansonsten wagte sich niemand aus dem Versteck, bis im Juli 1944 sowjetische Soldaten Chodorow befreiten.
Immerhin hatte Toby damals ein kleines, verschmiertes Fenster nach draußen. Durch dieses Fenster konnte sie über die Felder blicken und die anderen Kinder spielen sehen. »Es hat mich daran erinnert, dass es dort noch ein Leben gibt«, sagt sie. Das hat ihr Kraft gegeben.
So geht es ihr auch jetzt mit dem Fenster in ihrer Wohnung, von dem aus sie zwischen den Backstein-Hochhäusern von Brighton Beach hindurch das Meer sehen kann. »Jeden Morgen schaue ich als Erstes dort hinaus, dann geht es mir besser.«
Wenn sie auf den Atlantik blickt, verfliegen die düsteren Gedanken an die Vergangenheit, die Erinnerungen, die der 87-Jährigen mehr denn je im Kopf herumspuken, seit die Tage nicht mehr angefüllt sind mit Ausflügen zu den Kindern und Enkeln in Manhattan und in New Jersey, mit Einkaufen und Kochen für die ganze Familie oder mit den Führungen, die sie sonst im Museum of Jewish Heritage unweit des World Trade Center unternimmt.
MILITÄRSTIEFEL Doch spätestens, wenn am Nachmittag die Sonne in der Bucht von New York versinkt, sind sie wieder da, die Erinnerungen. Erinnerungen, wie die an die Stimmen der Nazis an jenem Tag im Jahr 1942, als in Chodorow die letzten der rund 2000 Juden zusammengetrieben und ins Vernichtungslager Belzec deportiert werden sollten. Das bellende Kommando »Alles raus auf die Straße«, als die Nazis in ihr Elternhaus eindrangen. Das Stampfen der Militärstiefel auf dem Parkett des Wohnzimmers.
Toby, die damals acht Jahre alt war, hörte das alles aus dem Keller ihres Elternhauses, wo sie sich mit ihren Geschwistern versteckt hatte. Einige Tage zuvor hatte ihr Vater, den man zur Zwangsarbeit in einem nahe gelegenen Sägewerk verpflichtet hatte, Gerüchte gehört, dass eine Großaktion der Gestapo in Chodorow bevorstehe. Deshalb hatte er über Nacht ein Loch in den Boden unter dem Kachelofen gesägt. Als die Nazis kamen, konnte die ganze Familie rechtzeitig in das Kellerloch schlüpfen.
Allein die täglichen Spaziergänge schützen sie vor einer Depression.
Nur Tobys Großvater weigerte sich, in den Keller zu gehen. Er wollte nicht fliehen, nicht das Risiko eingehen, seine Kinder oder Enkel sterben zu sehen. So saß er stoisch im Wohnzimmer der Familie, als die Gestapo kam, und lenkte von seinen Kindern und Enkeln ab, die im Keller kauerten. Als man ihn aufforderte, das Haus zu verlassen und auf einen Lastwagen zu steigen, sagte er Nein. Er wurde sofort erschossen. Toby hörte den Schuss und wie der Körper auf die Holzbohlen direkt über ihrem Kopf fiel. In einsamen Momenten hört sie diese Geräusche noch heute.
wunder Genauso, wie sie in einsamen Momenten wieder die Enge spürt, in die neun Menschen beinahe zwei Jahre lang gezwungen waren, und den Schmutz und den Hunger, den sie in dieser Zeit erleiden mussten. Und den Schrecken, der sie befiel, als sie zweimal beinahe entdeckt und wie durch ein Wunder gerettet wurden.
Einmal stand ein Gestapo-Offizier bei ihnen in der Scheune und hörte ein Hüsteln. Als er nachsehen wollte, kroch eine Katze aus der Ecke, und der Deutsche zog davon. Das andere Mal stand ein ukrainischer Polizist vor ihnen, doch aus völlig unerklärlichen Gründen blendete ihn die Sonne, sodass er sie nicht sehen konnte.
Das Schwerste für Toby Levy war in dieser Zeit, die Hoffnung nicht zu verlieren, vor allem im ersten Jahr in ihrem Versteck. Immer wieder sagte ihr Vater: »Der Krieg wird zu Ende gehen, wir werden befreit.« Er konnte nur nicht sagen, wann. Oft musste Toby Levy im vergangenen Jahr an diese Worte denken. Und wie damals halfen sie ihr jeden Tag, trotz der Einsamkeit aufzustehen.
hoffnungsschimmer Das Licht am Ende des Tunnels kam erst im zweiten Jahr ihrer selbst gewählten Gefangenschaft, 1943. Anfangs hörten sie nicht viel von der Außenwelt, doch später brachte ihnen die polnische Familie, die sie versteckte, immer häufiger Nachrichten von draußen. Die Deutschen seien auf dem Rückzug, hieß es, sie hätten große Schlachten verloren. Ein Hoffnungsschimmer, dass es ein Leben danach geben würde.
Ähnlich wie damals geht es Toby Levy auch heute. Erst kürzlich hat sie ihre erste Impfung gegen Covid bekommen, der Termin für die zweite ist anberaumt. Langsam beginnt Toby, wieder Pläne zu schmieden. Sie träumt davon, in den Bus nach Manhattan zu steigen, zu ihrem Sohn zu fahren, einkaufen zu gehen, ein großes Essen für die ganze Familie zuzubereiten – und zum ersten Mal ihren Urenkel zu küssen.
Im Juli 1944 marschierte die Rote Armee in Chodorow ein und befreite Toby und ihre Familie. Sie waren neun von 31 Juden, die von christlichen Nachbarn versteckt worden waren. Von den deportierten Juden überlebte niemand.
kriegsende Für die Eisenbergs begann ein neues Leben, das sich wie ein Geschenk anfühlte. Mit dem Kriegsende fuhren die Juden von Chodorow nach Österreich, wo sie in der Nähe von Linz in amerikanischen Armeebaracken untergebracht wurden.
Für die damals zwölfjährige Toby war es die schönste Zeit ihres Lebens. Sie konnte tanzen, wandern gehen, mit anderen Kindern spielen, und sie konnte lernen – alles Dinge, die man um ein Tausendfaches mehr zu schätzen weiß, wenn man jahrelang in einem Stall eingesperrt war. Doch die Eisenbergs wussten, dass das nicht ewig andauern konnte. Irgendwann mussten sie ein neues Leben beginnen. Und so schiffte sich die Familie im Jahr 1949 nach New Orleans ein.
Anders als die meisten osteuropäischen Juden wollte Tobys Vater nicht nach New York gehen. Er war ein ungelernter Arbeiter und hatte keine Lust, irgendwo am Fließband zu stehen. Im Süden, das hatte er gehört, könnten Juden als fliegende Händler ein Auskommen finden. Auf diese Weise wollte er, wie viele seiner Vorfahren, die Familie ernähren.
Wenn sie auf den Atlantik blickt, verfliegen die düsteren Gedanken.
Der Anfang in Amerika war nicht leicht für die Familie, die mit leeren Taschen in einer für sie vollkommen fremden Welt ankam. »Die Menschen waren freundlich und hilfsbereit«, sagt Toby heute. Es gab Hilfsorganisationen, Nachbarn und eine jüdische Gemeinde, die sich um sie kümmerten. Und doch fühlten sie sich fremd. »Wir haben kaum Englisch gesprochen. Und wir hatten nichts. Wir kamen uns schäbig vor und haben uns dafür geschämt.«
enklave Doch sie schafften es, sich mit Fleiß und Findigkeit in Amerika zu etablieren. Der Vater baute in New Orleans einen florierenden Gemischtwarenhandel auf. Toby und ihre Schwester heirateten und zogen nach New York, nach Brighton Beach, in die jüdisch-osteuropäische Enklave, in der sie noch heute lebt.
Zu einer wirklichen Amerikanerin, sagt sie, sei sie in all den Jahren nicht geworden. »Ich bin eine gute Staatsbürgerin und Steuerzahlerin, und meine Kinder sind überzeugte Amerikaner«, sagt sie. »Doch am wohlsten fühle ich mich unter meinen eigenen Leuten.«
Ein wenig liegt das auch daran, dass in Amerika nie irgendjemand ihre Geschichte hören wollte. Auch nicht die amerikanischen Juden in ihrer Nachbarschaft. »Niemand will damit behelligt werden, wie das war unter den Nazis.« Anfänglich, meint Toby, sei das vielleicht auch gut so gewesen. Man musste nach vorn schauen und nicht zurück, musste weitermachen. Doch je älter sie wird, desto wichtiger ist ihr das Erinnern.
Deshalb hat sie vor einigen Jahren angefangen, am Jewish Museum in Manhattan ihre Geschichte zu erzählen. Immer und immer wieder.
Auch dafür will sie ihr Leben zurückbekommen. Um sicherzugehen, dass nicht vergessen wird. Und um, so oft es geht, ihre Enkel und Urenkel in den Arm zu nehmen.