Am 3. Oktober 1980 um 18.38 Uhr erschütterte eine Explosion die Rue Copernic im 16. Pariser Arrondissement. Nur wenige Schritte vor dem Eingang einer dort gelegenen Synagoge detonierte in der Satteltasche eines geparkten Motorrads ein gewaltiger Sprengsatz. Mehr als 300 Beter hielten sich in dem Gebäude auf, als Fenster barsten und Mauersteine umherflogen. Draußen auf der Straße, wo selbst Autos durch die Luft geschleudert wurden, kamen vier Menschen ums Leben, 40 erlitten zum Teil schwere Verletzungen.
Am 3. April wurde in Paris der Prozess gegen einen Tatverdächtigen eröffnet. Stellvertretend für die Nebenkläger hofft Corinne Adler, die damals 13 Jahre alt war und in der Synagoge ihre Batmizwa feierte, als die Bombe explodierte, dass »dieser Prozess, der natürlich viel zu spät kommt, trotzdem noch einige offene Fragen beantworten kann«.
ZEITZÜNDER Wirklich klar ist bislang nur die Zielrichtung des Terrors: Der Anschlag in der ruhigen Seitenstraße im Westen der Hauptstadt galt der jüdischen Gemeinde. Der Zeitzünder des Sprengsatzes war auf das Ende des Gottesdienstes eingestellt. Einzig, dass sich die Feier in die Länge zog, verhinderte ein noch größeres Blutbad. Erste Vermutungen wiesen auf Täter aus dem rechtsradikalen Milieu, doch die Ermittlungen ins rechte Lager brachten keine Erkenntnisse.
Ende November 1980 lenkte ein Hinweis des Bundeskriminalamts die Spurensuche in den Libanon: Ein fünfköpfiges Kommando sei von Beirut unter der Ägide der palästinensischen Volksbefreiungsfront nach Paris aufgebrochen. Die Fahnder stießen auf einen gefälschten zypriotischen Pass, unter dessen Namen kurz vor der Tat ein Hotelzimmer angemietet und das Motorrad für den Anschlag erworben wurde.
Es dauerte allerdings noch bis 2007, bis ein Verdächtiger ausgemacht wurde: der Libanese Hassan Diab. Zur Tatzeit war er Soziologie-Student an der Universität Beirut und Mitglied einer armenischen Untergrundorganisation. Inzwischen war der einstige Student Professor in Ottawa und kanadischer Staatsbürger.
AUSLIEFERUNG Im November 2014 signalisierte die französische Staatsanwaltschaft den kanadischen Justizbehörden, dass der Prozess bevorstünde, und der Beschuldigte wurde nach Frankreich ausgeliefert. Doch tatsächlich standen die Ermittlungen noch am Anfang. Hassan Diab beteuerte seine Unschuld, er könne nachweisen, dass er zur Tatzeit an der Uni in Beirut eine Prüfung absolviert habe. Drei Jahre verbrachte der Verdächtige im Pariser Untersuchungsgefängnis, bis er Anfang 2018 aus Mangel an Beweisen nach Kanada ausreisen durfte.
Die französisch-jüdische Dachorganisation CRIF zeigte sich »konsterniert«. Die Freilassung des Hauptverdächtigen stelle eine Verletzung der Opfer dar, die ihren Familien weiteren Schmerz bereite, hieß es. Amnesty International hingegen kritisierte das Vorgehen der Justiz scharf, die unbegründete Inhaftierung von Hassan Diab behindere die Suche nach Gerechtigkeit für die Opfer.
Nun geht die juristische Aufarbeitung des Terroraktes in die nächste und vielleicht letzte Runde. Im Januar 2021 beschloss das Pariser Berufungsgericht, dass der Prozess wieder aufgerollt werden muss. Weiterhin gilt der heute 68-jährige Diab für die Staatsanwaltschaft als Täter. Das erneute Verfahren läuft in Abwesenheit des Verdächtigen. In den ersten Tagen kamen die Zeitzeugen, Opfer und Hinterbliebenen zu Wort. Ihre Schilderungen rücken das Leiden an der Traumatisierung durch den Anschlag, aber auch an dem Gefühl der Schuld, ihn überlebt zu haben, in den Mittelpunkt dieses Prozesses – für einige eine erste Gelegenheit, umfassend Zeugnis abzulegen über ihren Schmerz.
Das Ende ist für den 21. April vorgesehen, und es könnte das Datum werden, an dem die Gerichtsakten – auch ohne abschließende Gewissheit über die Hintergründe der Täterschaft – endgültig geschlossen werden.