Herr Nägele, am Samstag sind Tausende Gegner der Corona-Politik gemeinsam mit Rechtsextremen durch die Wiener Leopoldstadt gezogen. Einige riefen »Heil Hitler« und durchbrachen Polizeiabsperrungen. Wie haben Sie diese Stunden erlebt?
Es gab am Schabbat mehrere Demonstrationen. Die Entwicklung ist besorgniserregend. Solche Aufzüge finden schon seit einigen Monaten statt, aber es ist zu erkennen, dass die Gewalt zunimmt und die Slogans aggressiver werden. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass bei solchen Demonstrationen »Heil Hitler« gerufen wurde. So etwas in Wien zu erleben, erschreckt nicht nur unsere Gemeindemitglieder.
Die Demonstrationen waren angemeldet. Haben Sie die Gemeindemitglieder im Vorfeld gewarnt?
Wie immer vor solchen Veranstaltungen haben wir am Freitag einen Newsletter an alle Gemeindemitglieder verschickt. Wir haben einen sehr hohen Schutz unserer Synagogen.
Hätten Sie sich noch vor einem Jahr jüdisches Leben in Wien so vorgestellt?
Wien ist und bleibt eine sehr lebenswerte und sichere Stadt, auch für Jüdinnen und Juden. Keiner hätte sich noch vor einem Jahr vorstellen können, was heute passiert – in ganz Europa, ich nehme da Deutschland nicht aus. Das ist eine hochgefährliche Entwicklung. Und sie wird dadurch massiv verstärkt, dass Corona-Leugner viele antisemitische Ressentiments und Verschwörungslügen verbreiten und die Schoa verharmlosen. Ich beobachte mit Sorge, welche Koalitionen sich da bilden, dass zum Beispiel offen und ungehemmt FPÖ-Funktionäre mit Identitären und Neonazis durch die Straßen ziehen und eine aggressive Polemik betreiben.
Einer der führenden FPÖ-Funktionäre ist dabei Österreichs früherer Innenminister Herbert Kickl, Fraktionsvorsitzender im Nationalrat, dem Parlament. Er soll am Samstag in einer Rede im Prater die Stimmung angeheizt und gegen Israel polemisiert haben.
Kickl spricht von Impf-Apartheid und nutzt ganz bewusst antisemitische Codes. Die konkrete Verantwortung für die physische Gewalt trägt jeder Täter individuell für sich selbst, doch die moralische und politische Verantwortung für die Eskalation tragen die FPÖ und Kickl, der bewusst zündelt und mit Ängsten der Bevölkerung spielt, die Koalition mit den Rechtsextremen forciert und versucht, sich an die Spitze dieser Bewegung zu setzen.
Es ist dieselbe FPÖ, mit der Bundeskanzler Sebastian Kurz bis vor zwei Jahren in einer Koalitionsregierung zusammenarbeitete …
Die jüdische Gemeinde hat von Anfang an vor der Gesinnung der FPÖ gewarnt und sich klar positioniert. Neu ist das ungenierte Paktieren mit rechtsradikalen Identitären auf der Straße, das Verschieben der Politik vom Nationalrat, der politischen Bühne, auf die Straße.
Mit dem Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sprach Tobias Kühn.