Meine Reise begann mit einem Mittagsschlaf. Es war der 1. Mai 2006. Ich lag auf meinem Sofa in Berlin-Prenzlauer Berg, döste vor mich hin und dachte über das Leben an und für sich sowie die philosophische Frage nach, ob ich jetzt aufstehen und ein Stück Pflaumenkuchen naschen sollte, als plötzlich das Telefon klingelte. »Is this Mr. Stein?« »I think so.« »Mr. Hans Stein?« Die Stimme am anderen Ende klang dünn, und fern. Ihr Englisch hatte einen leichten, aber doch unverkennbaren hispanischen Einschlag.
»Yes«, sagte ich. »Mr. Hans Stein, this is US Customs.« Der Zoll? Der amerikanische Zoll? Was will der denn von mir? Habe ich etwa, als ich das letzte Mal in New York war, zu viele Kilo Bücher bei Barnes & Noble käuflich erworben und muss jetzt irgendetwas nachzahlen? Ich will sofort meinen Anwalt sprechen.
»Mr. Stein, you have won a green card.« Eine Greencard? In meinem schlaftrunkenen Hirn dämmerte eine vage Erinnerung: Hatte ich nicht vor ein paar Jahren im Internet die Greencard-Lotterie gegoogelt und mich frech dort eingetragen? Und hatte ich nicht irgendwann, als eine Mail ankam, ob ich das Lotteriespiel fortführen wolle, aus Jux und Dollerei auf »weiter-machen« geklickt? Na schön. Jetzt hatte ich offenbar die Bescherung.
»Mr. Stein? Are you still here? This is US Customs.« Ja, ich bin noch da. Nein, ich bin ganz weg. »Congratulations, Mr. Stein.«
»Thank you«, murmelte ich. »This is really nice.« Nice, nett, ist womöglich nicht das mot juste, das die Lage in ihrer ganzen Tragweite umfasst und erschließt. Das schoss mir schon durch den Kopf, während ich das große Wort gelassen aussprach. Wo sie die Papiere hinschicken soll, wollte die Stimme von US Customs wissen. Ob diese Adresse da, Ebers…, Eberschwa…, EberschwaSchtrasche…, also, ob die richtig sei. Ja, die Adresse stimmt, aber was für Papiere denn? Es gebe da noch ein paar Formalitäten zu erledigen, meinte der Mann vom amerikanischen Zoll mit dem leichten hispanischen Akzent. Er beglückwünsche mich im Übrigen ausdrücklich noch einmal. »Thank you, sir«, sagte ich. – Aufgelegt. (...)
Brooklyn Heute Morgen bin ich den Eastern Parkway in Brooklyn entlangspaziert. Der Eastern Parkway ist eine Prachtallee: vier Fahrspuren in der Mitte, ein Seitenstreifen links, ein Seitenstreifen rechts, dazwischen lauter Bäume. Gediegene holländische Häuser. Gleich am Anfang sah ich linker Hand den »Union Temple of Brooklyn«, der laut Schriftzug über dem Eingangstor eine jüdische Reformgemeinde beherbergt, die schon 1848 gegründet wurde.
Ein paar hundert Meter weiter verweilte ich einen Moment lang vor einer christlichen Kirche: »Shiloh – the Seventh Day Adventist Church«. Auf der anderen Straßenseite fiel mir »The Philadelphia Sabbath Cathedral« auf, ein Riesenschuhkarton von einem Haus mit wunderbar kitschigen Ornamenten. Danach spazierte ich am »Talmudic Seminary Ohel Torah« vorbei. Eine gelbe Flagge mit einer Krone steckte an einem Hauseingang, in hebräischer Quadratschrift stand darunter das Wort »Maschiach« aufgedruckt: Messias.
Endlich fand ich mich vor einem roten Ziegelhaus mit zwei spitzen Giebeln wieder – Eastern Parkway 770, eine der wichtigsten, möglicherweise auch eine der heiligsten Adressen des amerikanischen Judentums. Hier wohnte zeit seines Lebens – das heißt: bis 1994 – der Lubawitscher Rebbe. Nebenan im Tiefparterre der Eingang seiner Synagoge. Männer mit Bärten und schwarzen Hüten stiegen die Stufen zum Gebetsraum hinunter und hinauf, alle schienen es schrecklich eilig zu haben.
Lieblingsmoschee Später begegnete ich auf der Straße einem halben Dutzend Männern, die in beige Nachthemden gekleidet waren, weiße Haarnetzkappen auf ihren Köpfen trugen und Kinnbärte hatten. Keine Ahnung, woher diese Jünger Allahs gerade kamen. In meinem Büro in Brooklyn jedenfalls hörte ich fünfmal am Tag den Ruf des Muezzins von der Masjid al-Ihsan, die an der Fulton Street liegt. Meine Lieblingsmoschee ist das allerdings nicht. Meine liebste Moschee ist die Betzentrale der Krimtataren an der Utrecht Avenue, in deren Vorraum groß und gerahmt das Konterfei eines Mannes hängt, der den Islam aus tiefster Seele verachtete: Kemal Atatürk.
Bosnien, dachte ich, bald nachdem ich in New York gelandet war. Das hier ist Bosnien. Wohin ich auch schaue, wo ich auch spazieren gehe, ich sehe immer dasselbe: Kirche, Synagoge, Moschee. Moschee, Synagoge, Kirche. Um von Tempeln der Bahá’í und Buddhisten und den Anhängern des Propheten Zarathustra bei dieser Gelegenheit zu schweigen. (...)
Das amerikanische Wunder ist (...) nicht, dass die Fans schnauzbärtiger Diktatoren hier nie die Chance hatten, eine totalitäre Herrschaft zu errichten. Gehörig wundern muss man sich vielmehr darüber, dass all die Christen, Juden und Muslime (und Hindus und Zen-Buddhisten) am Eastern Parkway nie übereinander hergefallen sind. Warum sieht Amerika nicht wie der Balkan in den 90er-Jahren des just vergangenen Jahrhunderts aus; warum findet hier nicht jeden zweiten Tag ein Massaker statt? (...)
Gewiss, in Brooklyn ist nicht alles Harmonie – man müsste schon auf beiden Augen geschichtsblind sein, um das zu behaupten. Im August 1991 tobten rund um das Haus mit den zwei spitzen Giebeln am Eastern Parkway 770 die berüchtigten Unruhen von Crown Heights – weniger höflich könnte man auch von einem Pogrom sprechen. Als der Lubawitscher Rebbe von einem Besuch am Friedhof zurückkam, fuhr der Fahrer eines Autos in seiner Kolonne einen schwarzen Jungen an. Der Junge starb bei dem Unfall. Dies wurde zum Vorwand für die brutalsten antisemitischen Ausschreitungen in der amerikanischen Geschichte.
Ziegelsteine Die Gemeinde des Lubawitscher Rebben liegt als jüdische Enklave zwischen lauter Einwanderern aus der Karibik, und diese Einwanderer liefen – von Pogromtouristen aus anderen Stadtvierteln unterstützt – drei Tage lang Amok. Jugendliche stachen dabei einen Talmudstudenten tot. Eine Freundin, die fromm in einer Seitenstraße des Eastern Parkway aufgewachsen ist, kann sich noch gut an ängstliche Abendessen im Familienkreis erinnern: weit weg von den Fenstern, durch die klirrend Ziegelsteine geflogen kamen. Sie erinnert sich an umgestürzte Autos, an brennende Geschäfte, an Banden von jungen Männern, die auf der Mitte der Straße marschierten und »Death to the Jews!« brüllten. Vor allem erinnert sie sich, dass sich lange Zeit kein einziger Polizist blicken ließ.
Ja, schlimm. Aber kein Auftakt zu einem Völkermord, kein allgemeines Hauen und Stechen, kein kompletter Zusammenbruch des zivilisierten Zusammenlebens wie im ehemaligen Jugoslawien. Also noch einmal: Wie funktioniert das? Warum schlagen verschiedene Amerikaner, die Gott weiß welche Götter anbeten, sich nicht gegenseitig die Fanatikerschädel ein? Erste Erklärung (banal und trotzdem zutreffend): Die gläubigen Amerikaner arbeiten. Und zwar alle, eigentlich ohne Ausnahme. Zwar behauptet nur die bolschewistische Propaganda, in Amerika gebe es überhaupt keinen Sozialstaat – wahr ist aber doch so viel: Der gewöhnliche Sterbliche kann im Land der Freien nicht wie in Deutschland oder Großbritannien jahrelang von Staatsknete leben. Auch der fundamentalistische Hindu, auch der inbrünstig betende Muslim muss also jeden Monat die Stromrechnung bezahlen; er muss seine Hypothek bedienen und außerdem Geld für die Collegegebühren seiner Kinder zusammensparen.
Das heißt aber, dass – mit Sigmund Freud zu sprechen – das Realitätsprinzip gewaltig in den Seelenhaushalt einbricht. Es bleibt den Gläubigen verteufelt wenig Zeit, vom Dschihad (Himmelreich auf Erden, Ragnarök) zu träumen. Noch der Anhänger der verrücktesten protestantischen Großkirche in Texas kann die Offenbarung des Johannes nur in seiner Freizeit studieren. Hinterher muss er wieder ins Büro.
Eine andere Erklärung, warum die Gläubigen einander nicht an die Gurgel gehen, lieferte vor 150 Jahren ein berühmter Kollege. Alexis de Tocqueville schrieb: »Nach meiner Ankunft in Amerika bemerkte ich als Erstes, wie religiös das Land war, und je länger ich dort verweilte, desto deutlicher nahm ich die enormen politischen Konsequenzen wahr, die aus diesem neuen Sachverhalt resultieren. In Frankreich hatte ich den Geist der Religion und den Geist der Freiheit beinahe immer in entgegengesetzte Richtungen marschieren sehen. Aber in Amerika fand ich, dass sie eng miteinander verwandt waren und gemeinsam dasselbe Land regierten.
Dominanz Mein Wunsch, die Ursachen für dieses Phänomen zu ergründen, wuchs von Tag zu Tag. Um diesen Wunsch zu befriedigen, befragte ich Angehörige der verschiedenen Konfessionen; vor allem suchte ich die Gesellschaft von Geistlichen, die als Bewahrer der verschiedenen Glaubensrichtungen ein besonderes Interesse daran haben, dass sie überdauern … Gegenüber jedem dieser Männer drückte ich mein Erstaunen aus und erklärte meine Zweifel. Ich stellte fest, dass sie nur in Detailfragen unterschiedlicher Meinung waren und alle die friedliche Dominanz der Religion in ihrem Land hauptsächlich der Trennung von Kirche und Staat zuschrieben.«
Ein Wort glänzt in der amerikanischen Verfassung durch Abwesenheit. Es ist das Wort »Gott«. Der Staat hat sich in Amerika aus Glaubensfragen gefälligst herauszuhalten. Undenkbar also, dass die weltliche Obrigkeit im Auftrag der Kirchen eine Religionssteuer einsammelt.
Undenkbar, dass man auf amtlichen Formularen nach seiner Glaubenszugehörigkeit gefragt würde. Undenkbar, dass die Regierung private Geschäftsinhaber unter Androhung hoher Strafen zwingt, ihre Läden am Sonntag und an christlichen Feiertagen geschlossen zu halten. Undenkbar aber auch, dass der Staat den Bürgern befiehlt, sie hätten sich öffentlich wie Atheisten aufzuführen, dass er eine öffentliche Kleiderordnung einführt.
Tempel Wer mit einem Schleier sein Gesicht verhüllen möchte, kann das also gern tun. Sollte eine Religionsgemeinschaft ihren Anhängern nahelegen, die Unterwäsche auf dem Kopf zu tragen, wäre selbstverständlich auch das gestattet. Und wenn ein Verein von Hindus meint, er brauche einen Tempel mit dem Bildnis des Elefantengottes Ganesha, steht es ihm frei, diesen zu errichten; allerdings muss er für die Baukosten und den Unterhalt selbst aufkommen. Eine Gruppe schwuler Juden, die dringend einer Reformsynagoge mit einer lesbischen Rabbinerin bedarf, kann dieses Bedürfnis jederzeit befriedigen – auf eigene, nicht auf Staatskosten.
Diese strenge Trennung zwischen Herrschaft und Heil, zwischen göttlichen und politischen Angelegenheiten kommt nicht nur dem Gemeinwesen, sie kommt vor allem auch der Religion zugute. Orthodoxe Schiiten wissen das natürlich längst: »Der Saum des Gewandes der Geistlichkeit«, heißt es in ihrer Tradition, »darf nicht von weltlicher Macht beschmutzt werden.«
Hannes Stein: Tschüß Deutschland! Aufzeichnungen eines Ausgewanderten. Galiani, Berlin 2010, 221 S., 16,95 €