Die dreitägige Staatstrauer ist vorbei, doch der Schmerz um die Opfer bleibt, und es wird Jahre dauern, bis alle Schäden beseitigt sind. Bei einem schweren Erdbeben in Marokko sind in der Nacht zu Samstag fast 3000 Menschen ums Leben gekommen, fast ebenso viele wurden verletzt. Das Epizentrum des Bebens der Stärke 6,8 lag rund 70 Kilometer südwestlich der Stadt Marrakesch.
Es war das schwerste Erdbeben in dem nordafrikanischen Land seit 120 Jahren. Dutzende Dörfer im Atlasgebirge sind zerstört. Tagelang suchten die Einwohner nach Überlebenden, bargen Tote und begruben sie. Es mangelt an Wasser und Lebensmitteln. Einsatzkräfte versuchten, in die entlegenen Bergdörfer vorzudringen. Sie arbeiteten in den schwer zugänglichen Gebieten am Rande der Erschöpfung. Bei großer Hitze kämpften sie sich auf der Suche nach Überlebenden teils mit bloßen Händen durch Schutt und Trümmerhaufen vor. Die Hoffnung, Lebende unter den Trümmern zu finden, schwand von Stunde zu Stunde.
Von Casablanca aus koordiniert ein amerikanisch-jüdisches Team eine Hilfsaktion.
Die marokkanisch-jüdische Dachorganisation Conseil des Communautés Israélites du Maroc teilte der Jüdischen Allgemeinen mit, gebe es keine Erdbebenopfer in der jüdischen Gemeinde. Das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), das seit 1947 in Marokko tätig ist, hat weitere Mitarbeiter in das nordafrikanische Land entsandt, um den Betroffenen in der Erdbebenregion gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde vor Ort zu helfen.
Koordination Von Casablanca aus koordiniert ein JDC-Team eine Hilfsaktion. »Wir arbeiten mit der marokkanischen jüdischen Gemeinde zusammen, um den am stärksten betroffenen Menschen zu helfen und sicherzustellen, dass ihre grundlegendsten Bedürfnisse erfüllt werden«, sagte Pablo Weinsteiner, Chief Operating Officer des JDC, im Gespräch mit der Jewish Telegraphic Agency (JTA).
Eine andere israelische Hilfsorganisation, SmartAID, sagte der JTA, sie habe sofort nach dem Beben am späten Samstagabend 20 Personen nach Marokko geschickt – mit Technik, die die Kommunikation und die medizinische Versorgung in Gebieten ohne Strom und fließendes Wasser erleichtern kann.
Dov Maisel, Vizepräsident der gemeinnützigen Nothilfeorganisation Israel Hatzalah, sagte im Gespräch mit JTA, Anfang der Woche sei ein erstes Team von vier Personen mit Erfahrung im Katastrophenmanagement nach Marokko gereist. »Sie sind in die Dörfer 15 bis 20 Kilometer außerhalb von Marrakesch gefahren.« Dort habe das Erdbeben die Häuser regelrecht verschluckt, so Maisel. »Ein schreckliches Bild der Zerstörung.« Es werde medizinische Hilfe benötigt und bald vermutlich auch psychologische, denn ein Erdbeben kann Menschen traumatisieren.
In Marrakesch, wo rund 120 Juden leben, sind etliche Gebäude eingestürzt.
In Marrakesch, wo rund 120 Juden leben, sind etliche Gebäude eingestürzt. In einer Straße in der Mellah, dem alten jüdischen Viertel der Stadt, liegen alle Häuser in Trümmern – nur die Synagoge hat das Beben überstanden. Sie hat Risse in den Mauern und darf aus Sicherheitsgründen zurzeit nicht betreten werden.
Obwohl etliche Häuser zerstört wurden, gab es in Marrakesch nur relativ wenige Todesopfer. Doch die Behörden wiesen die Bewohner an, in den nächsten Tagen wachsam zu sein, falls es Nachbeben gibt.
SUCHE In Israel hielten sich Anfang der Woche tagelang staatliche Hilfsteams bereit, um nach Marokko zu fliegen. Israel ist weltweit führend bei Such- und Rettungseinsätzen und hat schon oft Teams ins Ausland entsandt, wo sie bei schweren Erdbeben halfen, unter anderem Anfang Februar in der Türkei.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte am Samstagabend, Israel stehe »in dieser schweren Stunde« an der Seite des marokkanischen Volkes. Zudem meldeten israelische Medien, Verteidigungsminister Yoav Gallant habe die Armee angewiesen, die Entsendung von Such- und Rettungseinheiten vorzubereiten.
Nur vier Länder bat die Regierung in Rabat offiziell um Hilfe: Spanien, Großbritannien, die Vereinigten Emirate und Katar.
Bis Redaktionsschluss lehnte Marokko jedoch israelische Such- und Rettungstrupps sowie die aus vielen anderen Ländern weitgehend ab. Nur vier Länder bat die Regierung in Rabat offiziell um Hilfe: Spanien, Großbritannien, die Vereinigten Emirate und Katar. Experten erklären das Vorgehen der Regierung damit, dass es sich bei den vier Ländern um »befreundete Monarchien« handele.
Beobachter gehen nicht davon aus, dass politische Gründe hinter dem Verzicht auf Hilfe aus Israel stecken könnten, denn Rabat und Jerusalem haben sich vor einigen Jahren diplomatisch angenähert, und seit dem Abschluss der sogenannten Abraham-Abkommen Ende 2020 gelten die Beziehungen zwischen den beiden Ländern als gut. Dass Marokko viele Hilfsangebote aus dem Ausland bisher nicht annahm, erklärte die Regierung in Rabat damit, man wolle vermeiden, dass die mangelhafte Koordinierung die Rettungseinsätze vor Ort behindern würde. »Sollte sich der Bedarf ändern«, werde man aber auf die Angebote zurückkommen, hieß es. Beobachter gehen davon aus, dass dies in den nächsten Tagen zu erwarten sei. Vielleicht nimmt Rabat dann auch Hilfe aus Jerusalem an.
PILGER Das Erdbeben ereignete sich in einer Zeit, da der jüdische Tourismus durch die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Marokko gerade wieder stark zugenommen hat. Israelischen Angaben zufolge hielten sich zum Zeitpunkt des Bebens fast 500 Israelis in Marokko auf. Alle seien in Sicherheit, erklärten die Behörden in Jerusalem.
Etliche waren zur sogenannten Hiloula, einer großen Pilgerfahrt, nach Marokko gereist. Am Todestag von Rabbi Chaim Pinto (1748–1845) pilgern jedes Jahr zahlreiche Juden, vor allem aus dem Ausland, zu dessen Grab in der Küstenstadt Essaouira. Im vergangenen Jahr nahmen rund 2000 Menschen daran teil.
Auch der marokkanische Export von Etrogim scheint trotz des Bebens weitgehend unvermindert weiterzugehen. Hunderttausende dieser Zitrusfrüchte, die Juden an Sukkot, dem Laubhüttenfest, rituell verwenden, werden jedes Jahr in Marokko geerntet und an jüdische Gemeinden im Ausland verkauft. Das Fest beginnt in diesem Jahr am 29. September, und die Ernte steht unmittelbar bevor.
Die Hilfsorganisation SmartAID hat
20 Personen nach Marokko entsendet.
Der Überlieferung nach sollen die ersten Etrog-Bäume vor fast 2000 Jahren im Atlasgebirge gepflanzt worden sein – von Juden, die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels bei den Berberstämmen im Nordwesten Afrikas Zuflucht fanden.
Laut einem Bericht der Jewish Telegraphic Agency werden die Etrog-Farmen im Atlasgebirge heute größtenteils von Berbern bewirtschaftet und sind im Besitz von Juden, die in Israel oder in Agadir leben. In der marokkanischen Küstenstadt gibt es eine winzige jüdische Gemeinde, die jedes Jahr zur Etrog-Ernte im Spätsommer vorübergehend wächst.
Der Israeli Tsvi Dahan, der in der Nähe von Agadir eine Etrog-Plantage besitzt, sagte JTA, er gehe davon aus, dass die ersten Etrog-Lieferungen planmäßig exportiert werden, denn der Flughafen Marrakesch ist inzwischen wieder geöffnet.