Jüdisch oder nicht – für Yan macht es keinen Unterschied. Zu Hause spricht er Jiddisch, auf der Straße und in den Läden Russisch, und an den Straßensperren Ukrainisch – und manchmal alles zusammen in einem Satz.
Er hat sich daran gewöhnt, auf dem Fußboden im Flur der Wohnung zu schlafen, in der er untergekommen ist. Es ist der sicherste Ort, sollte das Haus von einem Geschoss getroffen werden. Er hat sich auch daran gewöhnt, früh aufzustehen und seinen Brotjob möglichst rasch zu erledigen, damit er ab Mittag mit einem Kleinlaster die Kontrollposten um die Stadt abfahren kann, um Güter zu verteilen: Essen, Wasser, Toilettenpapier oder anderes Material. Was auch immer benötigt wird und vorhanden ist.
zahnrädchen Yan ist eines der vielen Zahnrädchen, die die Ukraine am Laufen halten. Aus Charkiw ist er gerade noch geflohen, um in der Zentralukraine stecken zu bleiben. Jetzt sagt er: »Ich gehe nirgendwo hin. Außer vielleicht zur Armee.« Eingeschrieben hat er sich bereits.
Für Yana Barinova ist das, was derzeit in der Ukraine passiert, nichts anderes als ein Genozid.
Jüdisch oder nicht, das spiele keine Rolle nach sechs Wochen Krieg, sagt auch Yana Barinova – und setzt nach: Das habe nie eine Rolle gespielt. Yana Barinova ist eine von vier Botschafterinnen des World Jewish Congress (WJC) in der Ukraine. Ihre Wohnung in Mariupol gibt es nicht mehr, wie sie sagt. Ihre Wohnung in Kiew ist ebenso wenig zugänglich derzeit. Mit ihrer Tochter ist sie nach Wien geflohen. Und von hier aus tut sie jetzt genauso wie Yan alles erdenklich Mögliche für die Ukraine.
EMOTIONEN »Ich versuche, meine täglichen Rituale aufrechtzuerhalten: Kaffee trinken, die Tochter in die Schule bringen, das alltägliche Leben bestreiten – und lese dann doch den ganzen Tag Nachrichten«, sagt sie. Und dabei müsse sie sich auch nach über 40 Tagen Krieg Tag für Tag dazu zwingen, zu realisieren, dass Krieg sei. »Ich kann es nicht glauben. Es ist undenkbar.« Derzeit sei es, wie sie es ausdrückt, ein »Ozean an Emotionen«.
In der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew hatte sie gearbeitet – der Gedenkstätte, die jetzt im Zuge des Krieges schwer beschädigt wurde. Für die russischen Invasionstruppen hatte die Zerstörung des neben der Gedenkstätte stehenden TV-Turms Priorität.
Tag für Tag hatte Yana Barinova den Holocaust vor sich. Die Opfer. Die Namen. Die Erschießungen. Das Elend. All die durch staatliche Gewalt beendeten Biografien. Und sie sei überzeugt davon gewesen, dass so etwas nach Auschwitz-Birkenau nicht mehr möglich sein werde. Noch als die russische Armee damit begonnen hatte, Infrastruktur zu bombardieren, war sie der Meinung, das habe man ja erahnen können.
Aber jetzt? »Sie schießen auf Zivilisten, sie bombardieren Wohngebiete, sie vergewaltigen, sie haben Mädchen zu Tode vergewaltigt.« Und für Yana Barinova ist das, was derzeit in der Ukraine passiert, nichts anderes als – ein Genozid. Nichts anderes als der Versuch eines totalitären Regimes, die Identität eines Nachbarlandes auszuradieren. Und das mitten in Europa. Mitten im 21. Jahrhundert.
UNTERSCHIED Yana Barinova will keinen Unterschied machen zwischen Juden und Nichtjuden. Denn, so sagt sie: »Dieser Krieg richtet sich gegen die Ukraine als solche. Und in diesem Sinne eben auch gegen ukrainische Juden oder ukrainische Italiener oder ukrainische Deutsche.« Sie sagt: »Alle Menschen, die geblieben sind, werden derzeit angegriffen. Wenn Bomben fallen, machen sie keinen Unterschied, wen sie treffen.« Denn das sei ein wirklicher Krieg.
»Wir versuchen unser Bestes, die Menschen, die das wollen, aus dem Land zu bringen«, sagt Yana Barinova. Jetzt seien es Butscha, Irpin und Hostomel, morgen schon könne es im Süden losgehen. In einer Lage wie dieser könne man es sich einfach nicht leisten, naiv zu sein.
Yan ist gerade noch aus Charkiw geflohen. Jetzt hat er sich bei der Armee eingeschrieben.
Über elektronische Medien werden Informationen ausgetauscht, Wohnungen oder Transportmittel organisiert, Kontakte verschickt, neue Bande geknüpft, Möglichkeiten eruiert. Und so vergehen die Tage. Dabei sollte sie ja Deutsch lernen, sagt Yana Barinova eher scherzhaft.
Es sind genau solche Netzwerke, die die Ukraine derzeit am Laufen halten: Netzwerke, die keine religiösen oder ethnischen Grenzen kennen. Netzwerke, die sich über den Erdball spannen. Netzwerke auch, in denen oft bisherige Rivalen plötzlich wieder zueinander finden und an einem Strang ziehen. Da werden Wohnungen organisiert, Kontakte geknüpft, Informationen ausgetauscht.
Da werden auch benötigte Güter organisiert. Güter, die dann zum Beispiel einer wie Yan in einem Kleinlaster nach seinem Brotjob zu den Checkpoints bringt. Oder, wie Yana Barinova erzählt, Güter, die dann in einer Kleinstadt von jüdischen Studenten zu einer Kirche gebracht werden, in der Menschen untergekommen sind, denen die Nahrungsmittel ausgehen.
»Das ist keine jüdische Tragödie«, sagt Yana Barinova. Es sei eine Tragödie für alle Menschen in der Ukraine. Alle zusammen seien sie mit einem terroristischen russischen Staat konfrontiert, und angesichts dieser Bedrohung gebe es nur einen Weg: einander zu helfen.
SCHMERZ Und dann ist da immer wieder dieser quälende Schmerz. Yan schildert ihn. Und auch Yana. Dass es wieder passiere. Gerade jetzt, in diesem Augenblick. Und das nach so vielen Jahrzehnten, in denen man den Geist beschworen habe, dass es nie wieder passieren dürfe. Der Schmerz, dass die Lektionen aus dem Zweiten Weltkrieg eben nicht gelernt worden sind.
Etwa, wenn man sich Russlands Kitsch um das »Z« als kriegsbejahendes Symbol ansehe. Oder wenn man die Argumentation betrachte, mit der Russlands Machthaber Wladimir Putin diesen Krieg rechtfertige: die, dass es die Ukraine nicht gebe, dass die Ukraine »entukrainisiert« werden müsse. Das ist die erst dieser Tage vollzogene neue verbale Eskalationsstufe nach der »Entnazifizierung«. Und all das in einem Land, das vom Holocaust getroffen wurde wie kein anderes. Jedes vierte Opfer der Schoa lebte in der Ukraine.
Das Wort »Entnazifizierung« will Yana Barinova nicht einmal in den Mund nehmen. Ihre Stimme wird pressend bei dem Thema. Nichts als eine Lüge sei das. Nichts als Propaganda. Das sei so, als würde man behaupten, eine weiße Wand sei schwarz. Denn was ihr selbst gerade widerfahre, sei nichts anderes, als dass ihre Familie in diesen Wochen zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit direkt von einem Genozid betroffen sei: im Zweiten Weltkrieg und eben jetzt.