Mailand

Hilfe auf Gleis 21

Flüchtlinge aus Eritrea mit einer Helferin Foto: Fondazione Memoriale della Shoà di Milano

In zahlreichen Ländern Europas ist seit Monaten die Not der Flüchtlinge zu sehen. Als Drehkreuz nutzen Zehntausende den Mailänder Hauptbahnhof. Weil der Ansturm nicht abreißt, wurde es nötig, auch Warteräume als Notunterkunft zu nutzen. Wie in einem Aquarium sind die Flüchtlinge dort hinter Glasscheiben zu sehen.

Stiftung Angesichts dieser Lage erkannten Ferruccio de Bortoli, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Corriere della Sera, und Roberto Jarach, Vorstandsmitglied der italienisch-jüdischen Dachorganisation UCEI, dass sie etwas tun müssen. Die beiden Männer leiten die Stiftung des Mailänder Schoa-Mahnmals, das vor zwei Jahren unter dem Hauptbahnhof der norditalienischen Stadt eröffnet wurde. Sie entschieden, eine Fläche von etwa 300 Quadratmetern, die ursprünglich als Garderobe vorgesehen war und über einen eigenen Eingang durch Büroräume verfügt, für die Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Die Unterkunft ist mit 35 Betten ausgestattet, es gibt zwei Bäder mit je fünf Waschbecken, einer neuen Dusche und Toiletten.

Vor den Schulferien sorgte die Suppenküche »Beteavon« der Lubawitscher für die Mahlzeiten. Jetzt kümmern sich die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio, eine Mitgründerin der Denkmalstiftung, und verschiedene Pfarreien mit Hunderten ehrenamtlichen Helfern um die Aufnahme und den Schutz der Flüchtlinge sowie um die Verteilung von Essen.

Solidarität Stefano Pasta von Sant’Egidio unterstreicht die »ansteckende Solidarität« durch Freiwillige aller Religionen. Man helfe ihnen koordinierend, »damit sie helfen können«, sagt er. Andere Organisationen sind für den Wechsel der Bettwäsche und der Handtücher zuständig. Die Mailänder jüdische Gemeinde verteilt Körperpflegemittel, Kleidung und Dosennahrung. Die Stiftung des Holocaust-Mahnmals trägt die Kosten für Reinigung, Wasser und Strom.

Seit Ende Juni sind in der Gedenkstätte rund 1500 Personen beherbergt worden – ohne den normalen Besucherbetrieb einzuschränken. Die Flüchtlinge sind unterschiedlicher Herkunft und häufig seit Jahren unterwegs. Etwa 70 Prozent von ihnen stammten aus Eritrea, sagt Jarach, rund zehn Prozent kämen aus Syrien, fünf Prozent aus dem Sudan, andere aus Libyen, Äthiopien und einigen weiteren Ländern. Mehr als die Hälfte bleibt nur einen Tag.

Die Sprachbarrieren sind sehr hoch, einige wenige können einzelne Wörter in einem schwer verständlichen Englisch. Trotz dieser Schwierigkeiten konnten Ehrenamtliche etwa 20 Zeugenaussagen der Flüchtlinge erhalten, drei davon wurden bereits übersetzt. Die Journalistin Amélie Herenstein berichtete in französischen Medien beispielhaft über das Schicksal des 26-jährigen Gemal aus Eritrea. Er verließ 2003 sein Land aus politischen Gründen, reiste durch den Sudan und Israel und versucht nun, von Mailand aus seine Brüder in Deutschland zu erreichen.

Geschichte Dass sich die Flüchtlinge in den Räumen einer Holocaust-Gedenkstätte aufhalten, ist den meisten von ihnen nicht bewusst. »Das Mahnmal und seine Inhalte lassen sich den Flüchtlingen kaum vermitteln«, sagt Jarach. Die Fremden wissen nicht, dass die Nationalsozialisten, um nicht gesehen zu werden, zwischen Dezember 1943 und Januar 1945 unterirdisch auf dem abgeschiedenen Gleis 21 Juden und Andersdenkende in Güterzüge sperrten. Insgesamt 23 Züge rollten von hier zu verschiedenen Konzentrations- und Vernichtungslagern, darunter Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen. Allein am 30. Januar 1944 wurden mit abgedeckten Lastautos mehr als 600 Juden aus dem Gefängnis San Vittore zum Bahnhof gebracht und mit dem Zug nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur 22 von ihnen kamen nach der Schoa zurück.

»Ich glaube«, sagt Roberto Jarach, »wer sich als Institution allgemein sozialen Themen und der Aufklärung widmet, wie es die jüdischen Gemeinden tun, muss beim Schutz von Minderheiten aufmerksam sein und Solidarität zeigen.« Weltweit gebe es unzählige Situationen von Entbehrung und Leid, in denen man angesichts der Entfernung nicht helfen könne, so Jarach. »Aber wenn sich die Menschen von ihrer Heimat wegbewegen und ihre Situation uns direkt betrifft, ist es unsere Pflicht, alles für sie zu tun.« Dazu gehöre eben auch, sie im Mahnmal unterzubringen.

USA

Der Lautsprecher

Howard Lutnick gibt sich als Architekt der amerikanischen Zollpolitik. Doch der Handelsminister macht sich mit seiner aggressiven Art im Weißen Haus zunehmend Feinde

von Sebastian Moll  18.04.2025

Ungarn

Die unmögliche Geige

Dies ist die zutiefst berührende Geschichte eines Musikinstruments, das im Todeslager Dachau gebaut und 70 Jahre später am Balaton wiedergefunden wurde

von György Polgár  17.04.2025

Medien

Noa Argamani ist auf der »Time 100«-Liste

Alljährlich präsentiert das »Time Magazine« die 100 einflussreichsten Menschen der Welt. 2025 ist auch eine freigelassene israelische Geisel dabei

 17.04.2025

USA

Neuauflage von Weinstein-Prozess startet

Vor gut einem Jahr überraschte ein Gericht in New York die Welt und hob das historische Vergewaltigungsurteil gegen Harvey Weinstein auf. Nun wird über die Vorwürfe erneut verhandelt

von Benno Schwinghammer  14.04.2025

Türkei

Die Optimistin

Liz Behmoaras schrieb über das jüdische Leben im Land – und für das Miteinander. Ein Nachruf

von Corry Guttstadt  14.04.2025

Ägypten

Gefährliches Paradies

Der Sinai ist einer der wenigen Urlaubsorte im Ausland, den Israelis auf dem Landweg erreichen können. Gern auch zu Pessach. Aber zu welchem Preis?

von Matthis Kattnig  11.04.2025

Feiertag

Putzen, Plagen, Playmobil

Neben Mazza und Haggada bietet Pessach Raum für ganz neue, individuelle Rituale. Wir haben uns in sieben Familien in Europa und Israel umgehört

von Nicole Dreyfus  11.04.2025

Israel-Boykott

Johnny Rotten nennt Hamas »einen Haufen von ›Judenvernichtern‹ «

Eine irische Zeitung hat versucht, den Ur-Punk Johnny Rotten vorzuführen, der sich kraftvoll gegen einen Boykott Israels wehrt. Das ging gründlich schief

von Sophie Albers Ben Chamo  10.04.2025

USA

Eine Hochschule und ihr LGBTQ-Klub

Die einen feiern den »Meilenstein für queere Juden«, die Yeshiva University rudert zurück. Nicht nur die orthodoxe Gemeinschaft ist verwirrt

von Sophie Albers Ben Chamo  10.04.2025