Keine drei Monate ist es her, dass die MeToo-Bewegung mit den Missbrauchsvorwürfen gegen den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein begann. Mittlerweile hat sie in vielen Ländern fast alle Teile der Gesellschaft erreicht.
In jüdischen Gemeinden in den USA entzündet sich die Debatte in diesen Wochen vor allem an der Frage nach dem Umgang mit dem Erbe von Shlomo Carlebach, dem orthodoxen Rabbiner, der als Komponist und Sänger von religiösem Folkrock in den 60er- und 70er-Jahren zur Legende wurde. Bis heute gibt es kaum einen Gottesdienst – orthodox, konservativ oder Reform –, in dem Carlebachs einfach-eingängige Melodien nicht fester Bestandteil der Liturgie sind.
Joan Baez Doch der charismatische Rabbiner, der mit Bob Dylan und Joan Baez auftrat, soll zahlreiche Frauen sexuell belästigt haben, darunter auch Minderjährige. Die Vorwürfe sind nicht neu. Das Frauenmagazin »Lillith« veröffentlichte 1998, vier Jahre nach Carlebachs Tod, einen Artikel, in dem Frauen von sexuellen Übergriffen des Rabbiners berichten – von nächtlichen Anrufen über unfreiwillige Umarmungen und erzwungene Küsse bis zu aufdringlichem Gegrabsche.
»Die meisten Betroffenen waren jung und verwundbar«, sagte Rabbinerin Lynn Gottlieb, eine der damals Interviewten, jetzt der Zeitung »Forward«. »Das ist nicht nur unangemessen. Das ist kriminell.«
Die Frage, welche Konsequenzen Synagogen aus den Anschuldigungen ziehen sollten, spaltet derzeit viele jüdische Gemeinden in den USA. So stehen in der Synagoge von Rabbinerin Gottlieb in Albuquerque, New Mexico, Carlebach-Lieder de facto auf dem Index. Sie wolle ehemalige Opfer »nicht noch zusätzlich traumatisieren«, sagt sie. Auch andere Gemeinden, vor allem in Kalifornien, erwägen, Carlebach-Melodien nicht mehr zu spielen. Die Facebook-Gruppe »Anything but Carlebach« sammelt Vorschläge zur liturgischen Musik jenseits des Carlebach-Repertoires.
Auf der anderen Seite stehen Carlebachs treue Anhänger. Sie befürchten die Demontage ihrer Ikone und werfen all denen, die das Thema zur Sprache bringen, vor, einen Toten zu diffamieren, der sich nicht mehr verteidigen könne.
MeToo Die meisten Gemeinden wollen sich indes nicht positionieren, sondern ziehen es vor, Kunst und Künstler zu trennen. So ließ der Rabbiner der konservativen Kongregation Shearith Israel in Atlanta verlauten, er konzentriere sich auf den Gemeindealltag und wolle sich »nicht in die Debatte um die Vorwürfe gegen Shlomo Carlebach einschalten«.
Carlebachs Tochter Neshama, eine bekannte Sängerin religiöser Folksongs, hatte bislang zu den Vorwürfen gegen ihren Vater geschwiegen. Jetzt veröffentlichte sie einen Brief in der »Times of Israel«. »Meine Schwestern, ich höre euch, ich weine mit euch, ich marschiere mit euch«, schreibt die Musikerin an die Anhängerinnen der MeToo-Bewegung. Sie selbst sei als Neunjährige von einem Freund der Familie, ebenfalls einem Rabbiner, sexuell missbraucht worden.
Zugleich jedoch würdigt sie in dem Brief das ambivalente Erbe ihres Vaters. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie seine Musik Menschen spirituelle Heilung gebracht hat«, schreibt Neshama Carlebach. »Aber ich weiß auch, dass dieselbe Musik in anderen Menschen einen tiefen Schmerz wachruft.« Sie sei zornig auf ihren Vater, schreibt sie. »Aber seine Fehler definieren nicht die Gesamtheit des Menschen, der er war.«
Berlin Carlebach, Jahrgang 1925, stammte aus einer einflussreichen deutsch-jüdischen Familie. Er wuchs in Berlin auf, wo sein Vater als Rabbiner in der Synagoge Passauer Straße wirkte. Später zog die Familie nach Baden bei Wien, wanderte nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 über Litauen in die USA aus. Später wurde er zu einer Kultfigur der Hippie- und Flower-Power-Kultur.
Carlebach war auch unter Orthodoxen umstritten. Er kämpfte – Ironie der Geschichte – für eine stärkere Rolle von Frauen im Leben der Gemeinden. Er ordinierte als Erster seiner Zunft eine orthodoxe Rabbinerin, seine Ehefrau lehrte an der Carlebach Shul in New York. Er nahm an der Gründungsveranstaltung der Frauenrechtsbewegung »Women of the Wall« teil, die sich dafür einsetzt, dass Frauen an der Jerusalemer Kotel beten dürfen.
Carlebach sei »kein Heiliger« gewesen, sagt Women-of-the-Wall-Gründerin Anat Hoffman im »Forward«. »Und, Gott sei Dank, kennt unsere Religion auch keine Heiligsprechung.« Allerdings habe das Judentum nie ein Problem damit gehabt, gebrochene, moralisch fragwürdige Menschen für ihre Leistungen zu feiern. König David zum Beispiel. Der habe wunderschöne Psalmen geschrieben, sagt Hoffman. Und zugleich war er, laut Überlieferung, ein unverbesserlicher Womanizer.