An der Tür des Gebäudes in der Upper East Side von Manhattan – Adresse: 1370 York Avenue – klebt ein Zettel. »Betreten verboten«, steht in großen roten Buchstaben dort. Im schwarz Kleingedruckten wird dann weiter unten erklärt, die Baubehörde habe diese Immobilie geschlossen. In der New Yorker jüdischen Wochenzeitung Forward kann man sich auf einem Foto ansehen, wie es drinnen zumindest einmal ausgeschaut hat: ungemachte Doppelstockbetten, Vorhänge, ein Fernseher, eine Nachttischlampe. Das soll eine Synagoge sein?
Wenn es nach der Webseite der Betreiber dieser Einrichtung geht, sehr wohl: »Die MacDougal Street Synagogue ›Bet Midrasch‹ ist eine gemeinnützige religiöse Organisation, die in New York beheimatet ist, und Besuchern von New York aus aller Welt einen modernen Zugang zur Toleranz eröffnet«, steht dort.
»Die Synagoge vertritt kein bestimmtes Glaubensbekenntnis. Dies würde unserem Zweck widersprechen, der darin besteht, die Anerkennung von Unterschieden zu ermutigen.« Hier dürfte sich der Leser wundern, denn gewöhnlich wird in Synagogen – ganz gleich, ob sie orthodox sind oder nicht – ja sehr wohl eine bestimmte Religion vertreten, nämlich die jüdische.
Hochzeiten In Synagogen wird schließlich unter anderem aus der Tora vorgetragen, und es werden nicht allgemein religiöse Vorträge gehalten. Verwundert mussten die Zeitungsleser vernehmen, dass in der MacDougal-Synagoge noch nie ein Rabbiner gesprochen oder ein Kantor gesungen hat. Weder Hochzeiten wurden dort gefeiert noch Schabbatgottesdienste abgehalten. Alles, was es gibt, sind jene verwahrlosten Doppelstockbetten und nicht nur in der York Avenue, sondern in insgesamt sechs Gebäuden in Manhattan.
Der Geruch von Betrug verstärkt sich durch die Informationen, dass das gesamte Gebäude, in dem sich die angebliche Synagoge in der York Avenue befindet, einer einzigen Familie gehört, den Galperns. Offensichtlich haben diese Leute eine Möglichkeit gesehen, eine Kette von billigen Unterkünften für Touristen bereitzustellen, ohne dass sie für diese illegalen Herbergen lästige Steuern hätten abführen müssen. Denn Synagogenvereine gelten in Amerika als gemeinnützige Organisationen und werden vom Fiskus begünstigt.
Die Baubehörde hat jetzt vier der Herbergen geschlossen, übrigens nicht nur, weil sie illegal sind, sondern auch, weil sie den feuerpolizeilichen Vorschriften nicht entsprechen. Die Anwälte der Stadt New York argumentieren: »Sogar wenn man die Tatsache außer Betracht lässt, dass die MacDougal-Synagoge in der Stadt an keinem bestimmten Ort eine tatsächliche Synagoge unterhält, entspricht es jedenfalls nicht der Tradition, dass Synagogen Hotelräume unterhalten, die im Internet an Touristen vermietet werden.«
Trennwand Ein Inspekteur gab zu Protokoll, er habe mit zwei Mieterinnen in der Adresse an der York Avenue gesprochen. Die Frauen hätten berichtet, der Vermieter habe ihre Wohnung betreten und einfach so, ohne Absprache, eine Trennwand durchgezogen, um dann dahinter ein Zimmer an Touristen aus Europa zu vermieten.
Die Betreiber der Synagoge wiederum lassen durch ihre Anwälte mitteilen, es handle sich hier keineswegs um »illegale Hotels«, sondern vielmehr um »Herbergen für Besucher New Yorks aus aller Welt, die während ihres Verweilens und als Gäste der Synagoge die Lehren der ›Toleranz im 21. Jahrhundert‹ studieren«. Die Betreiber der Synagoge wollen sich jetzt, damit sie ihre Herbergen wieder eröffnen können, auf das First Amendment berufen, den ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung, der die unumschränkte Religionsfreiheit garantiert.
Im Grunde handelt es sich um eine Posse, die betrügerische Absicht ist allzu durchsichtig. Aber in diesem Betrug wird, so komisch das klingt, der Kern der »Toleranz im 21. Jahrhundert« greifbar. Dieser Toleranz geht es nicht mehr darum, etwas für wahr zu halten und den anderen auch dann gelten zu lassen, wenn er fundamental anderer Ansicht ist.
Es geht vielmehr darum, so zu tun, als existierten von vornherein keine Unterschiede, als müssten sich alle auf ein Wischiwaschi-Dogma jenseits der Religionen einigen: die Toleranz an und für sich. Dass der Zweck der »Synagoge MacDougal Street« – die in Wirklichkeit nicht existiert – einzig darin besteht, auf die Schnelle ein paar Dollar zu machen, lässt das Wesen dieser verlogenen Toleranz deutlich werden.