»Adam und Eva waren die ersten Drogensüchtigen.« So interpretiert Harriet Rosetto die biblische Geschichte. Die 82-Jährige ist Gründerin der Beit-T’Shuvah-Gemeinde in Culver City, einem westlichen Vorort von Los Angeles.
»Adam und Eva wurde gesagt ›Tut das nicht!‹, und sie haben es trotzdem getan«, erklärt die Sozialarbeiterin. Dann hätten sie zunächst nur die halbe Wahrheit zugegeben, um sich danach gegenseitig zu beschuldigen, und am Ende versteckten sie sich vor Gott. »Das sind alles Dinge, die Suchtverhalten ausmachen«, sagt Rosetto.
GOTTESDIENSTE Beit T’Shuvah ist nicht nur eine Gemeinde, sondern vor allem eine Entzugsklinik mit 138 Betten. Im Durchschnitt bleiben Patienten neun Monate. Während dieser Zeit muss jeder, egal ob jüdisch oder nicht, jeden Morgen Tora lernen und am Freitagabend und Samstagvormittag sowie an Feiertagen an Gottesdiensten teilnehmen.
»Wir glauben, dass die Heilung der Seele das Chaos und die Zerwürfnisse zwischen Menschen beseitigen wird«, sagt Rabbi Mark Borovitz. Der 68-Jährige ist seit fast 30 Jahren mit Rosetto verheiratet. Er lernte sie im Gefängnis kennen, als er wegen Diebstahl und Scheckbetrug einsaß. Sie arbeitete für eine Organisation, die jüdischen Gefangenen Wiedereingliederungshilfe nach der Entlassung anbot.
Früher war Beit T’Shuvah ein Resozialisierungszentrum für Haftentlassene.
Beit T’Shuvah, was so viel heißt wie Haus der Ab- oder Rückkehr, öffnete 1987 seine Pforten als Resozialisierungszentrum für jüdische Haftentlassene.
»Die Rückfallquote lag damals bei 80 bis 90 Prozent«, erinnert sich Harriet Rosetto. Sie merkte nach einer Weile, dass viele ihrer Klienten Drogenprobleme hatten, und so verlagerte sich der Schwerpunkt ihrer Organisation auf die Suchttherapie.
KLEINKRIMINELLER Borovitz wuchs in einer jüdischen Familie in Cleveland, Ohio auf. Als er 14 war, starb sein Vater überraschend an einem Herzinfarkt. Dieses Ereignis warf den Teenager aus der Bahn: Er begann zu trinken und versuchte sich als Kleinkrimineller.
Mitte der 80er-Jahre zog er nach Los Angeles, wo er, inzwischen erwachsen, mehrfach straffällig wurde. Im Gefängnis lernte er einen Rabbiner kennen und wandte sich vermehrt jüdischen Texten zu. Kurz vor seiner Entlassung beschwerte sich Borovitz bei Rosetto, dass es keine Anlaufstelle für jüdische Ex-Kriminelle gebe. Rosetto bot ihm eine Stelle bei Beit T’Shuvah an.
Er wuchs langsam in die noch junge Institution hinein. Er leitete Gottesdienste und arbeitete als Seelsorger. Als er nach mehreren Unterbrechungen, die seinem Lebenswandel und der Zeit im Gefängnis geschuldet waren, 1995 sein Universitätsstudium abschloss, schlug ein Freund vor, er solle doch Rabbiner werden.
»Ich sprach in Gemeinden und auf Konferenzen über den Genesungsprozess, über Rehabilitation und die Auswirkungen von Suchtkrankheit auf Familien«, erzählt Borovitz. »Mein Freund glaubte, dass mir als Rabbiner besser zugehört wird.«
So fing er mit 45 mit dem Rabbinatsstudium an und erhielt im Jahr 2000 vom konservativen Seminar der University of Judaism seine Smicha.
ZIMMERGENOSSEN Bis heute kommen 20 bis 25 Prozent der Patienten von Beit T’Shuvah direkt aus dem Gefängnis. So saß Ethan Jablow, 28, eine Strafe wegen Einbruchs ab. Er war tablettenabhängig.
»Beit T’Shuvah hat einen guten Ruf im Justizsystem, jeder will dorthin, weil es hier etwas zu tun gibt und man nach 30 oder 60 Tagen nicht einfach wieder auf die Straße gesetzt wird«, sagt Jablow, der seit einem Jahr hier wohnt. Gemeinsam mit seinem Zimmergenossen gründete er einen Filmclub und übernahm die Live-Übertragung der Gottesdienste.
»Ich schaue zuversichtlich in die Zukunft und möchte der Gemeinschaft etwas zurückgeben«, sagt Jablow, der erst bei Beit T’Shuvah einen Zugang zu seinem Judentum gefunden hat.
Von den zwölf Monaten, die er dort verbrachte, zahlte er selbst nur für zwei Monate Miete. Die Vergabe von großzügigen Stipendien ist ein wichtiger Bestandteil des von Rosetto erdachten Modells, das neben der jüdischen Religion auch auf Prinzipien der Anonymen Alkoholiker und auf Psychotherapie setzt.
Auch Rosetto hatte als Kind in New Jersey keine enge Beziehung zum Judentum. »Als junges Mädchen war ich bei den Pfadfindern. Jeden Sonntag gingen wir in die Kirche. Als meine Mutter mich ›Jesus liebt mich‹ singen hörte, schickte sie mich auf eine jüdische Sonntagsschule«, erzählt sie.
Für viele Patienten, die bei Beit T’Shuvah ein vorübergehendes Zuhause gefunden haben, ist Rosetto wie eine Mutter oder Großmutter. Sie teilt mit ihrem Mann eine Neigung zu farbenprächtiger Kleidung und zu Schmuck. Daneben ist beiden gemein, dass sie das Thema Suchterkrankung ganzheitlich und allumfassend betrachten. »Jeder hat das in sich. Drogen sind das Symptom, die Krankheit haben wir alle«, sagt Rosetto.
Das ist auch die Philosophie von Rabbi Ben Goldstein, seit einem Jahr Senior-Rabbi von Beit T’Shuvah. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger und Mentor Borovitz, einem trockenen Alkoholiker, hat Goldstein keine eigene Erfahrung mit Drogenmissbrauch.
»Der Genesungsprozess ist ein Prozess, an dessen Anfang man sich eingestehen muss, dass die eigene Entwicklung nicht abgeschlossen ist, sondern dass man ständig an sich arbeiten muss«, erklärt der 43-Jährige. »Es gab Zeiten, in denen ich ganz unten war. Ich kenne das Gefühl, das Leben nicht unter Kontrolle zu haben.«
GEMEINDELEBEN Neben den knapp 140 Bewohnern nehmen an den Gottesdiensten in Beit T’Shuvah auch Leute teil, die von anderen Formen des Gemeindelebens enttäuscht sind. »Viele haben das Gefühl, dass in anderen Gemeinden Traditionen nur gepflegt werden, um Traditionen zu pflegen«, hat Goldstein beobachtet.
Für den Vater von zwei Kindern gleicht seine neue Stelle einer Heimkehr. Als Student war er 2006 Praktikant bei Beit T’Shuvah. Als er Borovitz nach seinen Aufgaben fragte, sagte dieser, er sei ein Anwalt für die Seele. »Ich hatte anfangs keine Ahnung, was das heißen soll«, gibt Goldstein zu.
20 bis 25 Prozent der Patienten kommen direkt aus dem Gefängnis.
Nach Abschluss seines Praktikums und nachdem er seine Smicha erhielt, setzte er diese Lehre bei traditionellen Gemeinden in die Tat um. »Ich wollte immer ein Anwalt für die Seele sein, statt jemand, der nur den Gottesdienst leitet. Ich wollte Menschen helfen, sich durch das Judentum selbst zu finden«, sagt er.
»Als Rabbiner einer Gemeinde soll man zeigen, warum Spiritualität im Allgemeinen und Judentum im Besonderen wichtig für das Leben der Mitglieder ist«, erläutert er. »Wenn wir hier die Worte ›Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir‹ aus Psalm 130 lesen, dann hat das für Menschen bei Beit T’Shuvah eine ganz tiefe Bedeutung.«
ANGEBOT Die Englischlehrerin Sandra Clayton, 48, hat die Lehren von Beit T’Shuvah erst im zweiten Anlauf an sich herangelassen. Die Alkoholikerin war 2013 schon einmal Patientin. Damals fand sie keinen Zugang zum spirituellen Angebot der Rabbiner und Therapeuten.
Diesmal soll alles anders werden. »Der Unterschied zwischen Beit T’Shuvah und vergleichbaren Einrichtungen ist, dass hier der ganze Mensch angesprochen wird«, sagt Clayton, die schon verschiedene andere Entzugsprogramme erlebt hat.
Clayton wurde als Kind von einer jüdischen Familie adoptiert, konvertierte aber erst kürzlich, nach fünf Monaten bei Beit T’Shuvah. »Ich glaube, dass ich jetzt die Voraussetzungen habe, Teil der jüdischen Gemeinschaft zu sein«, hofft sie.
Teil der Gemeinschaft von Beit T’Shuvah will auch Ethan Jablow nach seiner Entlassung bleiben. »Ich werde bestimmt alle sieben Tage der Woche hier sein. Und wenn es noch einen achten gäbe, dann auch am achten.«