Mai 1935. Europa, ja, die ganze Welt schaut in diesen Tagen auf die Schweizer Hauptstadt Bern. In der sonst eher verschlafenen Beamtenstadt findet vor 80 Jahren ein aufsehenerregender Prozess statt. Vertreter der kleinen jüdischen Gemeinde, unterstützt vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG), haben die Verhandlung gegen zwei schweizerische Nazis, die sich hier Frontisten nennen, angestrengt. Grund ist die Verbreitung der berüchtigten »Protokolle der Weisen von Zion« bei einer Kundgebung im Berner Kursaal.
Auf der Anklagebank sitzt aber eigentlich das NS-Regime in Berlin. Und entsprechend groß ist die Freude vieler Nazi-Gegner rund um den Globus, als das Berner Gericht die beiden Angeklagten zu einer Geldstrafe verurteilt und der Gerichtspräsident die bedenkenswerten Worte sagt, die sich in der Folge als prophetisch erweisen werden: »Ich hoffe, es wird eine Zeit kommen, in der kein Mensch mehr begreifen wird, wieso sich 1935 beinahe ein Dutzend sonst ganz vernünftiger Leute 14 Tage lang über die Echtheit oder Unechtheit dieser sogenannten Protokolle die Köpfe zerbrechen konnte.«
Die Berner jüdische Gemeinde, die dieser Prozess für einige wenige Tage in den Fokus der Weltöffentlichkeit brachte, war (und ist) eine Kleingemeinde, die sonst kaum für Schlagzeilen sorgt. Basel, Genf und vor allem Zürich spielen seit Jahrhunderten auf der Landkarte der jüdischen Schweiz eine viel bedeutendere Rolle. Wie es dazu kam, zeigt ein von René Bloch, Professor für Judaistik an der Universität Bern, und Jacques Picard, Ordinarius für Allgemeine und Jüdische Geschichte und Kultur der Moderne an der Universität Basel, herausgegebenes Werk über Juden in der Region Bern zwischen 1200 und 2000 auf.
Mittelalter Jüdisches Leben in Bern lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen: Das Buch zitiert eine Quelle, die von »den Herren Heinrich und Werner von Kien und den Talleuten von Frutigen« berichtet, die 1263 »bei den Juden Joseph, Liebermann, Michel und Jolinus, den ersten namentlich bekannten Juden in Bern, einen Kredit von 188 Mark aufnehmen«. Aber wie in vielen anderen Städten jener Zeit wurde genau das den Juden zum Verhängnis, und sie mussten Bern bald wieder verlassen. Sogar als sehr viel später, im 19. Jahrhundert, Bern auf dem Weg ist, Hauptstadt der Schweiz zu werden, tut man sich dort immer noch schwer mit der (bescheidenen) jüdischen Zuwanderung. Das zeigt sich nicht zuletzt bei Einbürgerungen von ansässigen Juden, die oft aus dem Elsass zugezogen waren.
Eine jüdische Zuwanderung anderer Art erlebt die Universitätsstadt Bern dann Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: Jüdische Studenten aus dem zaristischen Russland kommen hierher, es bilden sich regelrechte kleine russische Kolonien, selbst ein Ableger des Jüdischen Arbeiterbunds, genannt »Bund«, entsteht in der Hauptstadt. Was natürlich wiederum die Aufmerksamkeit der Schweizer Polizei erregt.
Diese Zuwanderung ist allerdings keine dauerhafte. Viele dieser zeitweiligen Einwohner ziehen weiter, die Gemeinde bleibt klein und muss sich in den 70er-Jahren wie andere Kleingemeinden Gedanken über ihre Zukunft machen. So beklagt der aus Basel stammende Rabbiner Roland Gradwohl resigniert die mangelnde Teilnahme vieler Mitglieder am religiösen und sozialen Leben der Gemeinde: »Die große Masse ist übersättigt, dass man anbieten kann, was man will – sie kommt nicht.«
Privileg Seither sind gut 40 Jahre vergangen, die Berner Gemeinde gibt es immer noch. Da Bern auch Schweizer Hauptstadt ist, verfügt sie trotz ihrer geringen Größe über ein Privileg: Der israelische Botschafter, der in der Stadt residiert, hat in der Synagoge einen reservierten Platz – und ist auch bei den Gottesdiensten ein gern gesehener Gast. Dieses Privileg hatte der wohl prominenteste jüdische Zuwanderer der Stadt nicht: Albert Einstein lebte zwischen 1902 und 1909 hier. Dieser Periode widmet das Buch ein eigenes Kapitel.
René Bloch und Jacques Picard (Hrsg.): »Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000«. Chronos, Zürich 2014, 527 S., 52 €