Etliche jüdische Gemeinden in Europa sehen sich einem Dilemma gegenüber. Jozeph Nassi, der Vizepräsident der Jüdischen Gemeinde Istanbul, beschreibt es mit den Sätzen: »Wenn der Vater dem Sohn gibt, lachen beide. Wenn der Sohn dem Vater gibt, weinen beide.« Nassi umreißt den Zwiespalt, wenn es darum geht, Israel um finanzielle Hilfe zu bitten. 80 Vertreter von jüdischen Gemeinden in Europa kamen Mitte des Monats in Barcelona zusammen, um vor allem über eines zu diskutieren: die Notwendigkeit, der steigenden Kosten für Sicherheit, Schulen und Sozialprogramme Herr zu werden.
Das Treffen in der Nähe der Plaça de Catalunya im Zentrum der Mittelmeermetropole stand im krassen Gegensatz zu den ausgelassenen Feiern auf der Straße. Für die Einheimischen war der souveräne 4:0-EM-Sieg Spaniens über Irland am 14. Juni eine willkommene Ablenkung von den Auswirkungen der schweren Finanzkrise, unter denen das Land ächzt. Die jüdischen Gäste hingegen hatten sich über das Wochenende in einem nahegelegenen Hotel versammelt, um sich intensiv mit ebendiesen Problemen zu beschäftigen – in der Hoffnung, Lösungen zu finden, die die Folgen der Krise in ihren Gemeinden abmildern.
wachstum Im Kampf gegen die unaufhörlich steigenden Kosten wenden sich führende Vertreter jüdischer Gemeinden jetzt an Israel, das in der Vergangenheit der Adressat ihrer Spendentätigkeit war und dessen Volkswirtschaft heute kräftig wächst.
Der Hilferuf wurde auf einer von dem neu gegründeten European Council of Jewish Communities (ECJC) finanzierten Konferenz formuliert. Das ursprüngliche ECJC wurde vor 40 Jahren vom American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) als europäischer Ableger der Organisation gegründet. 2010 löste es sich auf, nachdem finanzielle Unregelmäßigkeiten aufgedeckt worden waren und einige Vorstandsmitglieder aus Protest gegen die fehlende Transparenz ihre Arbeit niedergelegt hatten. Vergangenes Jahr wurde das ECJC mit Hilfe des JDC neu gegründet. Auch der Europäische Jüdische Kongress unterstützt das ECJC. »Wir sind der Meinung, es liegt in der Verantwortung des Staates Israel, den jüdischen Gemeinden in Europa dabei zu helfen, diese schwierigen Zeiten zu überstehen«, erklärte Robert Ejnes, Präsident der Gemeinde von Boulogne, vor den Versammelten.
Die jüdische Gemeinschaft in Frankreich ist mit etwa 500.000 Mitgliedern die zweitgrößte in Europa. Sie hat zu kämpfen, den Bedarf der eigenen Mitglieder zu decken und kann Gemeinden im Ausland nur »eingeschränkt« helfen, erklärte Ejnes. Einige Eltern in seiner Gemeinde könnten es sich nicht mehr leisten, ihren Kindern Geld fürs Mittagessen in der Schulkantine mitzugeben, ältere Menschen hätten Probleme, ihre Strom- und Gasrechnungen zu begleichen, erzählte Ejnes.
Hinzu käme, dass die Morde von Toulouse die Notwendigkeit gezeigt haben, die mehr als 30.000 Schüler an jüdischen Schulen im Land zu schützen, so Ejnes. Am 19. März hatte ein islamistischer Terrorist in Toulouse drei Kinder und einen Rabbiner vor einer jüdischen Schule erschossen.
Über viele Jahrzehnte haben die jüdischen Gemeinden in Europa Israel geholfen, die Wirtschaft voranzubringen und eine starke Armee aufzubauen, sagte Ejnes. »Jetzt ist das Kind stark geworden, und die Eltern sind alt. Die jüdischen Gemeinden in Europa haben nicht mehr die Kraft, die sie einst hatten«, so Ejnes. Die Präsidenten der jüdischen Gemeinden von Lissabon und Sofia unterstützen seinen Aufruf.
Griechenland Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Wirtschaftskrise in Griechenland. Der Präsident der Athener jüdischen Gemeinde, Benjamin Albalas, sagte später, einige in seiner Athener Gemeinde könnten es sich nicht leisten, verstorbene Familienmitglieder bestatten zu lassen. Andere seien von Zwangsräumung bedroht und könnten ihre Mitgliedsbeiträge nicht mehr bezahlen.
Albelas dankte »Israel und den Juden Amerikas« für ihre Unterstützung. Die europäischen Gemeinden hätten jedoch »weniger gegeben«. Bislang habe den griechischen Juden nur eine jüdische Gemeinde in Europa geholfen, so Albalas: die in Luxemburg. Sie spendete 1.000 Euro. Ihr Präsident François Moyse sagte, er sei »überrascht und beschämt« gewesen, als er hörte, die Luxemburger Gemeinde sei die einzige, die Geld gegeben hat.
Mario Izcovich, Leiter der europaweiten JDC-Programme, forderte die europäischen Gemeinden auf, sich gegenseitig zu helfen und dem Trend, die Verantwortung für das Handeln dem Staat zuzuschieben, entgegenzuwirken. Er nannte die Spende der Luxemburger Juden »vorbildlich« für andere Gemeinden. Der Versuch, in Europa Geld für die griechischen Juden zu beschaffen, habe mit einer Enttäuschung geendet, so Izcovich. »Einige Gemeinden, die wir angesprochen haben, meinten, es verstieße gegen ihre Satzung. Andere sagten, sie hätten eine eigene Organisation für solche Angelegenheiten.«
Geld Verglichen mit Amerika hätten die europäischen Gemeinden »keine Kultur des Gebens«, stellte Izcovich fest. Er forderte die Gemeindevertreter auf, Geld zur Seite zu legen, um damit den unter der Krise leidenden jüdischen Gemeinden zu helfen und generell mehr Verantwortung zu übernehmen.
Vertreter mehrerer Organisationen und jüdischer Gemeinden unterschrieben während der Konferenz eine offizielle Erklärung, in der sie sich zu Transparenz und zur Förderung der Solidarität unter den jüdischen Gemeinden in Europa verpflichten. Der Beweggrund für gemeinsame Initiativen und Erklärungen dieser Art liege in der »unnötigen Spaltung« der europäischen jüdischen Gemeinden, sagte Izcovich, der seit 25 Jahren in Spanien lebt.
Er brachte ein Beispiel: Zwischen Barcelona und dem südfranzösischen Perpignan liegen nicht mehr als 150 Kilometer. In beiden Städten sind die meisten Juden nordafrikanischer Herkunft. Doch hätten die Gemeinden keinerlei Verbindung miteinander, weil sie in verschiedenen Ländern lägen, so Izcovich. In Anlehnung an den Vertrag von 1985, der den Grundstein zu einer Europäischen Union ohne Grenzen legte, sagte er: »Wir müssen unser eigenes mentales Schengen schaffen.«