Er fühle sich in Golders Green immer noch sicher, beharrt der Londoner Sofer Bernard Benarroch, tief über Torarollen gebeugt, die er gerade repariert. Sein Geschäft, in dem er auch Judaika anbietet, liegt mitten in dem jüdischen Stadtviertel, wo vergangene Woche ein Mann mit einem Küchenmesser bewaffnet Menschen vor einem koscheren Supermarkt angegriffen hat, nachdem er immer wieder deren Meinung zum aktuellen Krieg in Israel eingefordert hatte. Der jüdische Sicherheitsdienst Shomrim und die Polizei konnten ihn überwältigen. Aber außerhalb von Golders Green müsse man aufpassen und nach Möglichkeit seine Kippa verdecken, so Benarroch.
Doch nun hat auch noch der Parlamentsabgeordnete von Golders Green und Finchley, wo die Hälfte der Bewohner Juden sind, bekannt gegeben, dass er sein Amt aufgeben und bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten wolle. Denn der konservative, nichtjüdische Mike Freer fürchtet um sein Leben, das seines Mannes und seiner Familie.
Verbale Bedrohung und schreckliche Normalität
Während die tägliche verbale Bedrohung schon schreckliche Normalität geworden ist, eskalierte der Hass im Dezember, als Freers Büro in Flammen aufging. Außerdem wurde bekannt, dass der IS-Unterstützer Ali Harbi Ali, der im Oktober 2021 den konservativen Abgeordneten Sir David Amess erstochen hatte, eigentlich Freer in dessen Büro töten wollte. Dass Freer noch am Leben ist, verdankt er nur einer unvorhergesehenen Terminänderung.
Der Politiker kennt den Grund für die ständigen Angriffe. Er stehe der jüdischen Bevölkerung in seinen Stadtteilen uneingeschränkt bei und unterstütze Israel, zitieren ihn britische Medien. Mehrmals sei er von Mitgliedern der verbotenen salafistischen Gruppe »Muslims Against Crusades« konfrontiert und unmissverständlich mit dem Tod bedroht worden. Diese Angriffe richteten sich mittlerweile auch gegen seine Familie.
Freer ist seit 2010 Abgeordneter. Seit seinem Amtsantritt hat er sich sowohl gegen rechtsradikale Bedrohungen als auch gegen den Antisemitismus in der Labour-Partei starkgemacht. 2021 forderte er lautstark Aufmerksamkeit und Solidarität, nachdem durch die Viertel eine Autokolonne gefahren war, bei der antisemitische Hassparolen zu hören waren. Nach dem Schock des Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 setzt er sich besonders für Israel und die jüdische Bevölkerung seiner Viertel ein.
»Ich kann mir vorstellen, wie er sich fühlen muss«
Freer sei häufiger in sein Geschäft gekommen, sagt der Sofer Benarroch. Er fühle mit ihm. »Ich kann mir vorstellen, wie er sich fühlen muss, weil wir als Juden das ja auch spüren.«
Das sagen auch andere Anwohner in der Nähe von Freers Büro. Er hätte an Freers Stelle das Gleiche getan, sagt Yitzy Freedman, dem ein jüdisches Weingeschäft ein paar Häuser weiter gehört. Sie seien empört über die Angriffe auf Freer, betont das pensionierte jüdische Ehepaar Judy und Victor. Allerdings hofften sie auch, dass dessen Amtsverzicht eine Chance für die jüdische Labour-Kandidatin Sarah Sackman sein könnte. Sackman hatte 2015 gegen Freer verloren. Auf X sprach sie nun ihr Bedauern aus, dass er gehe. Die Politik sei – statt von persönlichem Dialog – von gewaltsamer, hasserfüllter Sprache in den sozialen Medien bestimmt. Das müsse ein Ende haben.
Während neben dem Supermarkt »Kosher Kingdom« Plakate der israelischen Geiseln unversehrt blieben, sind sie neben Freers Büro abgerissen worden. Jemand hat auf die papiernen Reste geschrieben: »Wie krank und böse muss jemand sein, das hier zu zerstören. Wir lieben, ihr hasst!«